Grenzland-Serie 2020
Die zerrissene Region
Die zerrissene Region
Die zerrissene Region
Wie Nordschleswigs Wechsel von Deutschland zu Dänemark nach der Volksabstimmung vor 100 Jahren traditionelle Bindungen auflöste.
Die von den Dänen als „Wiedervereinigung“ Nordschleswigs mit dem Königreich Dänemark gefeierte Einverleibung der Abstimmungszone 1 im heutigen deutsch-dänischen Grenzland, entsprechend dem Votum bei der Volksabstimmung am 10. Februar 1920, wurde auf deutscher Seite ganz anders gewertet. Meist war in den folgenden Jahrzehnten von der „Abtretung“ eines historisch mit dem bei Deutschland verbliebenen größeren Teil des einstigen Herzogtums eng verbundenen Territoriums die Rede.
Beweglich nur noch per Pass oder Visum
Nördlich wie südlich der neuen Grenze gab es durch Verlust von traditionellen Absatzmärkten wirtschaftliche Herausforderungen zu meistern. Während Dänemark anstrebte, die neue Grenze physisch wirksam und sichtbar zu machen, und Nordschleswig möglichst rasch in den dänischen Staat zu integrieren, strebte die deutsche Seite einen möglichst lebendigen Grenzverkehr an, um eine wirtschaftliche Schwächung insbesondere Flensburgs zu verhindern. Die dänische Seite stellte nur Bauern, deren Agrarland von der Grenze durchschnitten wurde, besondere Grenzpässe aus. Für die meisten Menschen bestand im zuvor ungeteilten Schleswig Pass- und Visumspflicht.
Dennoch reisten viele Nordschleswiger besonders in den Inflationsjahren bis 1923 nach Flensburg, um sich mit Hilfe der starken Krone günstig mit Waren zu versorgen. Das schwächte die dänische Wirtschaft und führte nicht nur zu Protest der Regierung in Kopenhagen, sondern war auch Hintergrund der dänischen Linie, den Grenzübertritt zu erschweren.
Sylt-Reisende militärisch überwacht
Reisende mit der Insel Sylt als Ziel mussten bis zur Eröffnung des Hindenburgdamms 1927 mit verplombten „Korridorzügen“ von Süderlügum nach Hoyerschleuse reisen, um dort auf Raddampfern die Reise auf das Eiland fortzusetzen, das als Teil der zweiten Abstimmungszone am 14. März für einen Verbleib bei Deutschland gestimmt hatte. Während des Aufenthalts im dänischen Hafenort wurden die deutschen Reisenden militärisch bewacht.
Erst 1926 gab es Vereinbarungen zwischen den Regierungen in Kopenhagen und Berlin, die den Grenzübertritt erleichterten. „Erkauft“ durch Zollerleichterungen für Lieferung dänischer Agrarprodukte nach Deutschland. Und zur Freude der Bewohner des Grenzlandes, deren verwandtschaftliche Beziehungen in den jeweils benachbarten Staat damals sehr umfangreich waren, erfolgte im Mai des Jahres die Aufhebung des bis dahin geltenden Visumszwangs.
Danisierung der öffentlichen Hand
Mit dem Übergang in den dänischen Staat waren in vielen Bereichen einschneidende Veränderungen verbunden. Bereits am 20. Mai 1920 war anstelle der bereits durch die in den folgenden Jahren galoppierende Inflation geschwächte Reichsmark in Nordschleswig die dänische Krone eingeführt worden. Im Vorfeld hatten Spekulanten darauf gesetzt, im Zuge des Währungsumtausches Profit zu machen.
Ein Großteil des Personals der deutschen Verwaltung wurde nicht in dänische Einrichtungen und Behörden überführt. Justiz, Kreisverwaltungen, Post und Eisenbahn erlebten große Personal- und Systemwechsel. Doch neben deutschen Beamten, die sich während der preußischen Herrschaft bei vielen dänisch gesonnenen Nordschleswigern nicht immer beliebt gemacht hatten, waren auch andere Einrichtungen betroffen. So wurde aus Apenrade von der deutschen Presse gemeldet: „Die sechs dänischen Diakonissen, die für das hiesige Krankenhaus bestimmt, sind hier eingetroffen. Die deutschen Diakonissen, von denen namentlich die in Nordschleswig gebürtigen das Verdrängtwerden hart empfinden, und die alle hier lange segensreich gewirkt, haben die Stadt verlassen. Man sieht die treuen Schwestern hier ungern scheiden, und herzlicher Dank für ihre selbstlose, aufopfernde Arbeit folgt ihnen nach.“
Lehrer und Pastoren wurden im dänischen Nordschleswig entlassen und mussten sich neu bewerben. Das führte dazu, dass viele der neu gewählten lokalen Schulkommissionen und Kirchengemeinden mit dänischer Mehrheit die bisherigen Inhaber der Posten nicht einstellten. Es gab eine Abwanderung mehrerer Tausend Deutscher aus Nordschleswig.
Entfaltungschancen auch ohne Sonderrechte
Dänemark wollte vermeiden, dass Nordschleswig innerhalb des eigenen Staates einen Sonderstatus erhielt, weshalb auch keine Bereitschaft bestand, der deutschen Minderheit fixierte Sonderrechte einzuräumen. Allerdings ermöglichten die relativ liberalen dänischen Gesetze den deutschen Nordschleswigern eigene Schulen zu gründen und mit der Nordschleswigschen Gemeinde auch kirchlich eigenständig zu agieren. Parallel wurden aber vor allem in den Städten und Orten mit deutscher Mehrheit im Kommunalparlament wie in Hoyer in den Kommunalschulen deutsche Abteilungen eingerichtet und innerhalb der dänischen Volkskirche deutsche Pastoren eingesetzt.
Schätzungsweise 25000 bis 30000 Menschen gehörten in Nordschleswig der deutschen Minderheit an. Deren Politiker, vor allem der deutsche Angeordnete im Folketing, Johannes Schmidt-Wodder, verfolgten vehement das Ziel, die Grenzziehung von 1920 rückgängig zu machen. Begründet mit dem Hauptargument, dass die Abgrenzung der Abstimmungszonen ungerecht gewesen sei.
Zahlenmäßig deutlich kleiner war die dänische Minderheit südlich der neuen Grenze. Nach dem Votum von 80 Prozent der Abstimmungsberechtigten in der Zone 2 südlich der neuen Grenze für einen Verbleib bei Deutschland gab es für die dänischen Südschleswiger erst Ende der 1920er Jahre Regelungen, im größeren Umfang eigene Schulen zu gründen und zu betreiben. Argwöhnisch berichtete die deutsche Presse im Grenzland über finanzielle Unterstützung für die dänische Minderheit aus dem Königreich. Politischen Einfluss hatte die dänische Minderheit südlich der Grenze damals kaum.
Eingliederung beschert dem Staat Kosten
Für Dänemark war die Eingliederung Nordschleswigs ein auch finanziell kostspieliger Vorgang. Es musste viel Geld in neue Institutionen wie den Bau eines Grenzbahnhofs in Pattburg investiert werden. Auch wurde vom dänischen Staat für Kriegsinvaliden und Hinterbliebene der rund 5000 in deutschen Uniformen im Ersten Weltkrieg Gefallenen die Versorgung übernommen. In seinem Buch „Den følte grænse“ stellte der dänische Historiker Morten Andersen 2009 fest, dass bis 1933 „die Grenze zwischen Dänemark und Deutschland eine markante Scheidelinie wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art in der schleswigschen Landschaft“ geworden war.
Die Sozis tun sich mit der neuen Grenze leicht
Bemerkenswert war, dass sich die „internationalistisch“ orientierten Sozialdemokraten in Deutschland und Dänemark bereits Ende 1923 in einem Abkommen ihrer Spitzenvertreter Wels und Stauning auf eine Anerkennung der nach den Volksabstimmungen gezogenen Grenze verständigten. Bereits ab 1920 zeichnete sich ab, dass in Schleswig-Holstein vor allem rechtsgerichtete Parteien, seit Beginn der 1930er Jahre die NSDAP Hitlers, Forderungen nach einer Revision der deutsch-dänischen Grenze propagandistisch nutzten. Ab 1933 witterten die deutschen Nordschleswiger, die im jahrelang krisengeschüttelten Deutschland der Weimarer Republik nur relativ geringe Unterstützung aus dem „Mutterland“ erhielten, Morgenluft. Es kam zu einer Nazifizierung der deutschen Minderheit, befördert auch von wirtschaftlicher Krise im agrarisch geprägten Nordschleswig seit der Weltwirtschaftskrise 1929. Das provokative Auftreten von NS-Organisationen der deutschen Nordschleswiger feuerte wiederum die dänischen Nordschleswiger an, ihre Entscheidung pro Dänemark von 1920 zu verteidigen. Doch selbst während der Besetzung Dänemarks durch Hitlerdeutschland 1940-1945 hielt die Grenze.