Diese Woche in Kopenhagen
„Das Grundgesetz: 174 Jahre alt – und fast unverändert“
Das Grundgesetz: 174 Jahre alt – und fast unverändert
Das Grundgesetz: 174 Jahre alt – und fast unverändert
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Seit der damalige dänische König das erste dänische Grundgesetz am 5. Juni 1849 unterzeichnet hat, ist es nur viermal geändert worden. Die meisten Paragrafen sind heute noch dieselben wie damals. Die letzte Änderung wurde vor 70 Jahren beschlossen, denn die dänische Verfassung ändert man nicht so mir nichts, dir nichts. Walter Turnowsky erklärt auch, wieso das Grundgesetz eng mit der schleswigschen Geschichte verwoben ist.
Sie ist mit Würde gealtert, die dänische Verfassung. Man kann sogar sagen, sie sieht fast genauso aus wie damals. Wie am 5. Juni 1849, als die Väter des Grundgesetzes sie unterzeichneten (Mütter waren nicht dabei; die durften erst ab 1915 mitreden).
Die besagten Väter waren nämlich überzeugt, dass ihnen ein sehr schönes Grundgesetz (Danmarks Riges Grundlov) gelungen war, an dem man nicht alle naslang herumdoktern soll. Also formulierten sie einen letzten Paragrafen, der es schwierig machte, das Grundgesetz zu ändern.
Konservatives Grundgesetz
Um das Grundgesetz nach den heutigen Bestimmungen zu ändern, muss zunächst das Folketing die Änderungen beschließen, und unmittelbar danach werden Neuwahlen ausgeschrieben. Danach muss das neue Folketing dem unveränderten Vorschlag zustimmen, worauf er dem Volk unterbreitet wird. Bei der Volksabstimmung bedarf es nicht nur einer Mehrheit, sondern es müssen – und hier wird es richtig schwierig – 40 Prozent sämtlicher Wahlberechtigten die Änderungen unterstützen.
Es braucht also eine hohe Wahlbeteiligung, und genau hier wurde es 1953 eng (damals war die Forderung sogar 45 Prozent). Obwohl 77,46 Prozent dafür stimmten, machten sie nur 45,76 Prozent aller Wahlberechtigten aus.
Quiz
An dieser Stelle schiebe ich ein kleines Quiz ein, an dem du dein Wissen über das Grundgesetz testen kannst:
Welcher Punkt war entscheidend dafür, dass 1953 doch noch genug Menschen an der Abstimmung teilnahmen?
Wieso hatte Dänemark elf Jahre lang zwei Verfassungen?
Wieso musste das Grundgesetz bereits 1866 erstmalig geändert werden?
Welche Grundgesetzänderung hat zur Einführung des modernen Parlamentarismus geführt?
Ob du die richtigen Antworten gewusst hast, erfährst du, indem die Kolumne zu Ende liest.
Nationalliberaler Druck
Zunächst mal zurück zu den Anfängen: Kurz vor seinem Tod im Januar 1848 beauftragte König Christian VIII. seinen Sohn Frederik VII., den Absolutismus zu beenden und eine Verfassung für den Gesamtstaat (helstat) einzuführen. Der Gesamtstaat umfasste das eigentliche Königreich sowie die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg.
Bereits eine Woche nachdem Frederik VII. den Thron übernommen hatte, präsentierte er einen Verfassungsentwurf. Er sah vor, einen Reichsrat (rigsråd) mit jeweils gleich vielen Vertretern aus dem Königreich und den drei Herzogtümern einzurichten. Die 1834 eingeführten Ständeversammlungen (Stænderforsamlingerne) sollten das Recht erhalten, Gesetze zu erlassen und Steuern einzutreiben.
Es war also den 152 Grundgesetzvätern gelungen, eine Verfassung zu entwerfen, die einerseits präzise genug und anderseits elastisch genug war, um die bisher 174 Jahre zu überstehen.
Einer Reihe von nationalliberalen Politikern ging das jedoch nicht weit genug. Sie forderten eine freie Verfassung und die Eingliederung des Herzogtums Schleswigs in das Königreich. Sie planten für den 21. März eine Demonstration mit der Forderung des Rücktritts der vom König ernannten Regierung, die gegen die Eingliederung Schleswigs war.
Einführung der konstitutionellen Monarchie
Frederik VII. kam ihnen jedoch zuvor, kündigte seinen Ministern und bildete eine Sammlungsregierung mit ehemaligen Ministern und nationalliberalen Politikern.
Er gab bekannt, dass er sich nicht mehr als absolutistischen Herrscher ansah. Damit war de facto die konstitutionelle Monarchie eingeführt – ohne Verfassung. Diese Situation sollte sich gut 50 Jahre später wiederholen: Es wurde eine Änderung der Staatsform in der Praxis eingeführt, bevor diese dann in Paragrafen des Grundgesetzes gegossen wurde.
Der nationalliberale Minister D. G. Monrad verfasste einen Entwurf für ein Verfassungsgesetz für Dänemark und Schleswig, das 80 Paragrafen enthielt und sich an anderen Verfassungen orientierte. Im Oktober 1848 wurde eine grundgesetzgebende Versammlung (Den Grundlovsgivende Rigsforsamling) aus 152 Männern gebildet. 114 waren vom Volk – sprich „unbescholtenen“ Männern über 30 – gewählt, die übrigen 38 vom König ernannt.
Das erste Grundgesetz
Nach langen und zähen Verhandlungen einigte sich die Versammlung auf einen Kompromiss, den sie am 25. Mai 1849 verabschiedete und die der König am 5. Juni unterschrieb.
Das Grundgesetz galt für Dänemark, aber mit der Möglichkeit, den Geltungsbereich auf Schleswig auszudehnen. Diese ursprüngliche Verfassung wird das Junigrundgesetz (Junigrundloven) genannt und enthält bereits Bestimmungen zur Dreiteilung der Macht (§ 2), zur Unversehrbarkeit der Wohnung (§ 86) und des Privateigentums (§ 87), der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (§ 91, § 92 und § 93) sowie eine Reihe von weiteren Freiheitsrechten.
Genau diese Bestimmungen gelten (bis auf einige redaktionelle Änderungen) unverändert bis heute. Die Interpretation des Grundgesetzes hat sich jedoch über die Jahre geändert. Es war also den 152 Grundgesetzvätern gelungen, eine Verfassung zu entwerfen, die einerseits präzise genug und anderseits elastisch genug war, um die bislang 174 Jahre zu überstehen. Die Dame konnte in Würde altern.
So richtig demokratisch war das damals jedoch noch nicht. Nur 15 Prozent der Bevölkerung hatten Stimmrecht, nicht nur Frauen, auch Männer ohne eigenen Haushalt (das „Gesinde“), Empfänger von Armenhilfe (fattighjælp) sowie Vorbestrafte waren von der Demokratie ausgeschlossen. Außerdem wurde die Bestimmung „der König ernennt die Regierung“ buchstabengetreu ausgelegt.
Der König meinte nicht, man könne die Macht im Lande Bauern, Arbeitern und anderen Menschen „gemeiner Herkunft“ überlassen.
Die schleswigsche Frage
Es würde den Rahmen dieser ohnehin schon langen Kolumne sprengen, näher auf die Bedeutung der nationalliberalen Strömungen auf dänischer wie auf deutscher Seite auf die Konflikte um die Herzogtümer einzugehen. Wichtig für unsere Erzählung ist jedoch der Erste Schleswigsche Krieg (1848-1851). Eine Gesamtstaatsverfassung sollte 1855 Dänemark, Schleswig, Holstein und Lauenburg in einer Konföderation einen. Das Grundgesetz regelte die inneren Angelegenheiten in Dänemark, jedoch nicht in den Herzogtümern.
Holstein und Lauenburg wehrten sich jedoch gegen die Gesamtstaatsverfassung, und so galt sie nur für Dänemark und Schleswig. Diese Situation war jedoch auf die Dauer nicht tragbar, und so unterzeichnete König Christian IX. 1863 die sogenannte Novemberverfassung, die Dänemark und Schleswig in einer Föderation einte.
Dies führte den Reichsrat (rigsrådet), der die gemeinsamen Angelegenheiten regelte, aus der vorherigen Verfassung fort. Dieser bekam jedoch größere Befugnisse: Alle Fragen, die nicht ausdrücklich Dänemark und Schleswig vorbehalten waren, wurden vom Reichsrat entschieden.
Die Niederlage – und zwei Verfassungen
Die Novemberverfassung war der direkte Anlass für den Zweiten Schleswigschen Krieg. Nach der Niederlage bei Düppel (Dybbøl) 1864 bestand das Königreich bekanntlich nur noch aus Dänemark. Dennoch gab es zwei Verfassungen: das Grundgesetz, das die inneren Angelegenheiten regelte, und die Novemberverfassung, die Außen-, Verteidigungs- und Finanzpolitik regelte. Entsprechend gab es auch zwei Parlamente.
Also musste eine Verfassungsänderung her. Die Krux war jedoch, dass die Wahlregeln der Novemberverfassung noch strikter waren als die des Grundgesetzes. Dadurch wurden die konservativen Politiker bevorteilt; ein Privilegium, das diese nicht aufgeben wollten.
Als Kompromiss wurde zwischen den Liberalen und den Konservativen ausgehandelt, dass die Regeln des Junigrundgesetzes für das Folketing gelten sollten, die der Novemberverfassung für die zweite Kammer des Reichstages, das Landsting. Am 28. Juli 1866 trat das geänderte Grundgesetz in Kraft.
Der Systemwechsel
Wie bereits erwähnt, ernannte der König die Regierung, und das war seit 1865 immer die königstreue, konservative Partei Højre (rechts) – ganz gleich, wie die Mehrheitsverhältnisse im Folketing aussahen. Die liberale Partei, Venstre (links), forderte die Einführung des Parlamentarismus. Der König meinte nicht, man könne die Macht im Lande Bauern, Arbeitern und anderen Menschen „gemeiner Herkunft“ überlassen.
Das Problem mit der fehlenden Mehrheit im Folketing überwanden die Højre-Regierungen, indem sie mit provisorischen Gesetzen regierten. 1901 konnte dieses System jedoch nicht aufrechterhalten werden. Venstre erhielt 76 der 113 Mandate im Folketing, Højre lediglich 8.
Zähneknirschend ernannte König Christian IX. den Venstrepolitiker Johan Henrik Deuntzer als Regierungschef. Dies ist als der Systemwechsel (systemskiftet) bekannt. Seit diesem Zeitpunkt kann der König keine Regierung ernennen, die eine Mehrheit im Folketing gegen sich hat. Diese als negativer Parlamentarismus benannte Regierungsform wurde jedoch erst 1953 ins Grundgesetz aufgenommen.
Die letzte Frage im Quiz war somit eine Fangfrage: Der Parlamentarismus wurde ohne eine Änderung des Grundgesetzes eingeführt.
Wahlrecht für Frauen
Mit der Grundgesetzänderung 1915 kam ein weiterer Durchbruch für die Demokratie: Frauen erhielten das Wahlrecht. Gleiches galt für Hausangestellte. Das privilegierte Wahlrecht für das Landsting wurde abgeschafft.
Doch bereits fünf Jahre später wurde eine weitere Grundgesetzänderung notwendig. Den Grund hast du vermutlich bereits erraten: Nach der Volksabstimmung und Grenzziehung (Genforeningen) 1920 musste der Geltungsbereich auf Nordschleswig ausgedehnt werden.
1939 versuchte der Reichstag, das Grundgesetz in einer Reihe von Punkten zu modernisieren, scheiterte jedoch bei der Volksabstimmung. Obwohl 91,9 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Änderung waren, reichte es soeben nicht für die notwendigen 45 Prozent aller Stimmberechtigten.
Prinz Knud und die Wahlbeteiligung
1953 startete der Reichstag einen neuen Versuch. Neben einer Modernisierung ging es auch darum, dass Grönland nicht mehr Kolonie, sondern gleichberechtigter Teil des Königreichs werden sollte. Auch das Wahlrechtsalter wurde gesenkt, das Landsting abgeschafft. Es war jedoch ein anderer Punkt, der die Wählerinnen und Wähler vor allem zu den Urnen lockte.
König Frederik IX. hatte drei Töchter, aber keinen Sohn. Das dem Grundgesetz angegliederte Thronfolgegesetz sah jedoch eine rein männliche Erbfolge vor. Damit würde der Bruder Frederiks, Prinz Knud, den Thron erben. Der war jedoch bei Weitem nicht so populär wie Frederik und dessen Töchter. Auch galt er einem Teil der Bevölkerung als nicht besonders helle (die Redensart „Bitte noch einmal für Prinz Knud“ stammt aus einer Revue).
Und so nahmen genug Menschen an der Volksabstimmung teil, damit Frederik IX. am 5. Juni 1953 das geltende Grundgesetz unterzeichnen und seine älteste Tochter 1972 als Margrethe II. den Thron besteigen konnte.
Ändern – aber wie?
Seit 1953 hat es wiederholt Anläufe gegeben, das Grundgesetz zu ändern. Denn trotz aller Würde ist es in einigen Ecken doch schon ein wenig verstaubt. Doch bislang sind alle Versuche im Sande verlaufen. Es fehlt die Dringlichkeit eines verlorenen Krieges, fehlender demokratischer Rechte, einer neuen Grenzziehung – oder eines Prinzen Knud.
Bei der Abschlussdebatte des Folketings am vergangenen Mittwoch haben Radikale Venstre vorgeschlagen, dass das Recht auf reine Luft, reines Wasser, der Natur- und Klimaschutz im Grundgesetz aufgenommen werden. Das Klima wird jedoch nicht darauf warten können, dass die sozialliberale Partei einen neuen Prinz Knud aus dem Hut zaubert.
Daher werden wir es wohl eher so machen müssen wie nach 1901: die notwendigen Änderungen durchführen – auch, ohne dass darüber etwas im Grundgesetz steht.
Quellen: danmarkshistorien.dk, Den store Danske, ft.dk