Grenzland-Serie 2020

Sie waren 1920 alles andere als froh

Sie waren 1920 alles andere als froh

Sie waren 1920 alles andere als froh

Jens Nygaard
Achtrup
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Foto: DK4 / SHZ-Grafik: Daniela Krönung

Die Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder Dänemark vor 100 Jahren hinterließ nicht nur Gewinner. Auf beiden Seiten der neu gezogenen Grenze blieben nationale Minderheiten zurück. Ein Paradebeispiel ist die Familie Andresen aus Achtrup im nördlichsten Nordfriesland.

In den ersten Monaten von 1920 herrschte vielerorten Freude in Nordschleswig, das sich am 10. Februar bei einer Volksabstimmung mit einer großen Mehrheit für Dänemark entschieden hatte. Und nach der Abstimmung in der sogenannten zweiten Zone in Südschleswig am 14. März  herrschte eine entsprechende Freude in vielen deutschen Heimen, weil man ein Teil Deutschlands bleiben konnte. Aber es gab immer noch viele Häuser sowohl nördlich als auch südlich der Grenze, wo keine Freude über das Ergebnis herrschte.
„Für meinen Großvater und meine Großmutter war es sehr enttäuschend, auch wenn sie sicher ein Gespür dafür hatten, wie es ausgehen würde“, erzählt Jens Andresen. Er wohnt heute in Lügumkloster in Dänemark und ist nach einem aktiven Berufsleben in der Landwirtschaft im Ruhestand. Darüber hinaus ist er Vorsitzender des  dänischen Grenzvereins. 

Anfangs war die nationale Zugehörigkeit unwichtig 

Die Familie stammt  ursprünglich aus Himmerland weit oben in Jütland. Anfang des 18. Jahrhunderts zog sie gen Süden. Damals führte der Umzug vom Königreich Dänemark in eines der Herzogtümer, die zu dem gehörten, was man den dänischen Gesamtstaat nannte.  Damals sinnierten die Einwohner in Achtrup nicht sonderlich darüber, ob sie Dänen oder Deutsche waren. Sie kamen einfach aus Achtrup, und irgendein König war unendlich weit weg.

Erst  Mitte des 18. Jahrhunderts begann man näher darüber nachzudenken, ob man dänisch oder deutsch war. Unabhängig davon blieb die vorherrschende Sprache im Dorf das plattdänische Sønderjysk. Und man heiratete ohne Vorbehalte. Großvater Jens Andresen sah sich selbst als dänisch, aber Großmutter Frida kam aus einer deutschen Familie.

Der von Dänemark verlorene Krieg von  1864 und die Eingliederung des Herzogtums Schleswig in Preußen hatte für Jens Andresen die Folge, dass er als deutscher Soldat einberufen wurde. Er kam 1912 zur Marine, aber wurde aufgrund eines Lungenleidens 1914 vorzeitig nach Hause geschickt. 

„Aber es gab  einen älteren Bruder, der bei Verdun gefallen ist. Er lag in einem Feldlazarett, das von einer Granate getroffen wurde. Seine Überbleibsel wurden  nie gefunden“,  erzählt  Jens Andresen. Wie viele in Nordschleswig hatten die Brüder Andresen keine Lust, den Krieg der Deutschen auszufechten. „Aber sie machten es unter anderem,  um den Bezug zur Gegend zu bewahren. Die Alternative war, dass sie vielleicht  ausgewiesen würden“, sagt Jens Andresen.

Foto: DK4 / SHZ-Grafik: Daniela Krönung

Neue Farbe für den Hof, um nicht zu provozieren 

Nach den Abstimmungen  1920 blieb Familie Andresen in Achtrup wohnen, wo man – unter anderem dank des großväterlichen Erfolgs als Viehhändler – ein gutes Auskommen hatte.  Aber der weit überwiegende  Teil der Dorfbewohner hatte deutsch gestimmt, und das Plebiszit bekam eine ganz unmittelbare Konsequenz: „Der Hof unserer Familie war zuvor weiß gekalkt mit roten Fensterrahmen und Beschlägen. Nun wurden die Fenster gelb und die Rahmen schwarz  gestrichen“, berichtet Jens Andresen. Damit waren die nationalen dänischen Farben verschwunden. Der Großvater gleichen Namens hatte für die Änderung eine einfache Erklärung: „Wir sollten ja dableiben“, sagte er und fügte hinzu, „dass nichts Gutes dabei herauskommen würde, weiter zu provozieren.“

Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 musste  die Familie kämpfen, um den väterlichen Hof zu behalten, nachdem die Erbgesetzgebung so geändert worden war, dass sie helfen sollte, dass deutscher Boden Deutschen gehört. Aber schließlich blieb der Betrieb in den Händen der Familie. 

In Achtrup wählten 87 Prozent die NSDAP, obwohl 25 Prozent nachgesagt wurde, dänisch eingestellt zu sein. „Mein Großvater weigerte sich, den Hitlergruß zu verwenden, wenn er im Dorf andere Menschen traf. Er blieb dabei, mit „Goddaw“ (Plattdänisch für Guten Tag, Anm. d. Red.) zu grüßen“, sagt Jens Andresen. Das führte dazu, dass man sich schließlich nicht mehr richtig grüßte – und das konnte ja nicht angehen, dachte sich der Großvater.  Er organisierte ein Treffen mit einigen Nachbarn, und dort erreichte man einen Kompromiss:  Künftig sollte man bloß  dadurch grüßen, dass man feststellte,  ob schönes  oder schlechtes Wetter herrschte. 

Jens Andresen trägt den gleichen Namen wie sein Großvater und wohnt heute auf der dänischen Seite der Grenze. Foto: DK4

Die kräftige Verlängerung des Schulwegs 

Weil es in Achtrup oder Umgebung keine dänische Schule gab, mussten die vier Söhne alle die deutsche Schule besuchen. Von dort bekamen sie wie alle Klassenkameraden eines Tages einige deutsche, also nazistische Abzeichen mit nach Hause, die sie verkaufen sollten. Dagegen legte ihr Vater sein Veto ein. In der Folge mussten die  Söhne  auf  eine dänische  Schule in Flensburg wechseln  – was einen langen Schulweg bedeutete.

Deutscher Sprach-Boykott als Nazi-Protest

Die Abscheu der Familie vor dem  Nationalsozialismus hatte auch eine andere Folge.  Bisher war zu Hause eine Mischung von Deutsch und Dänisch gesprochen worden, Letzteres mit dem lokalen Dialekt  Sønderjysk. Aber ab Mitte der 30er-Jahre definierte sich die Familie als ausschließlich dänisch. Deshalb wurde nur noch Sønderjysk zu Hause gesprochen.

Die vier Söhne von Frida und Jens Andresen wurden alle als deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg einberufen. Erstaunlicherweise überlebten sie alle – auch wenn einer sowohl einen Arm als auch ein Bein verlor und ein zweiter im Nachhinein von einer Kriegs-Psychose heimgesucht wurde. 

Als einer der Brüder, Karl, aus dem Krieg nach Hause kam, zeichnete er ein hübsches Bild seines Vaters. „Am 24. Juli kehrte ich zurück“, hat  Karl Andresen später in schriftlichen Aufzeichnungen geschildert. 

„Als ich das letzte Stück vom Bahnhof nach Hause gehen sollte, kam mir ein Mann auf seinem Fahrrad entgegen. Das war mein Vater. Anderthalb Jahre waren vergangen, in denen wir uns nicht gesehen hatten, und dann sagte er: ,Tag, mein Junge. Nun bist du wieder da. Setz dich auf die Stange.’

Und dann setzte ich mich auf die Stange und baumelte mit den Beinen wie ein kleiner Junge.   Das war das beste Gespräch, das ich jemals mit meinem Vater hatte – wo wir über   nichts sprachen. Einmal zwischendurch lehnte er seinen Kopf gegen meinen Nacken und ich hatte meinen Kopf an seiner Schulter. Trotzdem sagten wir nichts. Das war so fein“, hat Karl Andresen geschrieben.

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