Grenzland-Serie 2020

Historisches Votum im Ausnahmezustand

Historisches Votum im Ausnahmezustand

Historisches Votum im Ausnahmezustand

Frank Jung
Nordschleswig
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Auf der Flensburger Exe sammeln sich im März 1920 35000 Teilnehmer zu einem deutschen Demonstrationszug. Foto: Königliche Dänische Bibliothek

Mit fast identischer Eindeutigkeit, aber unter entgegengesetzten nationalen Vorzeichen, entscheiden sich die Wähler vor 100 Jahren in beiden Zonen der Volksabstimmung: In Nordschleswig will insgesamt eine Dreiviertelmehrheit zu Dänemark wechseln. Abweichende Ergebnisse in drei Städten bleiben unberücksichtigt. In Zone 2 zwischen dem Raum Flen

Seit 1898 schon ist Hermann Bendix Todsen Oberbürgermeister Flensburgs. Dass das populäre Stadtoberhaupt da mal eben so mitten in der Wahlperiode die Stadt verlassen soll, will nicht jeder Bürger einfach   hinnehmen. Zwar hat der dänisch gesinnte Polizeipräsident  eine eigentlich geplante  Kundgebung mit Reden und Transparenten   verboten. Aber zumindest schweigend versammeln sich als Zeichen des Protests mehrere hundert Einwohner vor Todsens Haus in der noblen Stuhrs Allee, als ihn dort ein  Auto abholt. Britische Soldaten sichern die Szenerie. Die Passanten sehen Stahlhelme, Maschinengewehre und eine Trage mit Verbandskasten für den Fall, dass die Lage eskalieren sollte. 

Das tut sie nicht – dennoch verdeutlicht  die Momentaufnahme  aus dem Januar 1920 den Ausnahmezustand im nördlichen Schleswig-Holstein vor 100 Jahren. Wenige Wochen vor der Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder Dänemark ist die Atmosphäre bis zum Äußersten gespannt. Nicht allein Todsen, sondern sämtliche Wahlbeamte und Behördenleiter im Abstimmungsgebiet müssen ihr Amt ruhen lassen. Das  ist Teil  möglichst neutraler Rahmenbedingungen, die der Friedensvertrag von Versailles  für das Plebiszit vorsieht. Ab dem 24. Januar 1920 ist die nationale Kampfzone deswegen   staatenlos: Seitdem sind dem Deutschen Reich und der Provinz Preußen dort sämtliche Machtbefugnisse entzogen.

England und Frankreich stellen 3000 Soldaten

Oberste Autorität ist eine  Kommission aus zwei Briten und je einem Franzosen, Norweger und Schweden. Die „Commission Internationale de Slesvig“ (CIS) residiert im Hotel „Flensburger Hof“ an der Hafenspitze, dem heutigen Polizeipräsidium.  Um ihr Standing zu sichern, sind mehrere Tage zuvor 3000 ausländische Soldaten eingetroffen. Britische Marine und Infanterie  hat Quartier in der Marineschule Mürwik bezogen, französische Alpenjäger in der Flensburger Duburg-Kaserne sowie in Hadersleben, der nördlichsten Stadt  im CIS-Territorium. 

Beide Abstimmungszonen werden  nicht nur von ihren eigentlichen Einwohnern bevölkert. Sowohl aus  dem sonstigen Deutschland als auch aus Dänemark sind in Massen auswärtige Stimmberechtigte angereist. In Flensburg etwa  machen sie 24 Prozent der   Wahlberechtigten aus. Denn neben allen über 20-Jährigen aktuell im Plebiszit-Gebiet Wohnenden dürfen auch diejenigen teilnehmen, die  vor 1900 dort geboren  worden sind.  

Endlose Umzüge, ausgebuchte Heimatabende  

Per Sonderzug oder Sonderdampfer reisen die Buten-Schleswig-Holsteiner und Buten-Dänen an. Volksfestartig werden sie auf Bahnsteigen und Kaianlagen von ihrer jeweiligen Nationalität  begrüßt. Allein in Sonderburg „sind aus dem Süden etwa 1100 Deutsche hier eingetroffen“, berichtet der Korrespondent des „Flensburger Tageblatts“.  Auf dem Rathausmarkt  gab es  für sie  ein philharmonisches Konzert. „Nachmittags“, so heißt es in dem Artikel weiter, „strömten die deutschen Einwohner mit ihren Gästen nach dem Schlossplatz.“ Um die 5000 Teilnehmer seien es gewesen. „Unter Gesang des Schleswig-Holstein-Lieds und anderer vaterländischer Weisen bewegte sich ein Zug, der 30 Fahnen mit sich führte, durch die Hauptstraßen und  am Hafen entlang, wo gerade zwei große Dampfer aus Kopenhagen ihre für das Landgebiet bestimmten Wähler landeten. Es ist zu keinerlei Ausschreitungen gekommen.“ 

Ähnlich der Andrang in  Tondern: „Die letzten Tage standen im Zeichen des Empfangs der Abstimmungsgäste“, berichtet das „Tageblatt“. In den Lokalen „Schützenhof“ und „Tonhalle“ fanden deutsche Heimatabende statt. „Die Säle waren überfüllt, Hunderte mussten umkehren, weil sie keinen Platz mehr bekamen.“  Ähnlich bringen  sich landauf, landab die Anhänger der dänischen Seite in Stimmung für den Schicksalstag. Es geht bis hin zur Kleidung: In Zeitungen beider  Lager finden sich Aufrufe, sich bei der Wahl der Garderobe  an der jeweiligen Flagge zu orientieren. Also entweder am schleswig-holsteinischen Blau-Weiß-Rot oder dem Rot-Weiß des Danebrog.

Foto: SHZ-Grafik: Daniela Krönung

Landbevölkerung gibt in Zone 1 den Ausschlag

In der ersten Zone „Nordschleswig“ entscheiden die   Menschen am 10. Februar 1920.  101 652 treten an die Urnen.  Das entspricht   trotz nasskalten Wetters mit viel Wind und Schneeregen einer  Wahlbeteiligung von 91,5 Prozent. Von 9 bis 20 Uhr sind die Wahllokale geöffnet.  Es wird nicht angekreuzt, sondern einer von zwei Zetteln in die Urne gesteckt: auf einem steht Tyskland/Deutschland, auf dem anderen Danmark/Dänemark, die deutschsprachigen Fassungen jeweils in Frakturschrift, die dänischsprachigen  in moderneren  Buchstaben. Das Ergebnis erfüllt im Großen und Ganzen die Erwartungen: 74,2 Prozent für Dänemark, 24,9 Prozent für Deutschland.   In dem dänischen Antrag an die Versailler Friedenskonferenz für  eine Volksabstimmung hat man das Gebiet extra so abgesteckt, dass  man sich einer rot-weißen Mehrheit sicher sein konnte.  Den Ausschlag gibt  die überwiegend dänisch gesinnte Landbevölkerung.  Die  Städte verzeichnen mit Ausnahme von Hadersleben hingegen deutsche Mehrheiten: Sonderburg 55, Apenrade 54, Tondern gar 76 Prozent. Daneben kommen in drei Dutzend ländlichen Gemeinden mehr deutsche als dänische Stimmen zusammen.   Weil aber „en bloc“ für ganz Nordschleswig ausgezählt wird, bleiben  örtliche deutsche Mehrheiten ohne Konsequenzen.

Um Flensburg wird am härtesten gekämpft

Als am 14. März 64 524 Wähler in der zweiten Zone „Mittelschleswig“ abstimmen, scheint zwar die Sonne. Doch die  Rahmenbedingungen in diesem Streifen zwischen einigen Dörfern östlich von Flensburg über die Fördestadt selbst bis zu den nordfriesischen Inseln sind  dramatischer. Weil hier die Voten  gemeindeweise gewertet werden, hat jede einzelne Stimme leichter Konsequenzen als in Nordschleswig. Entsprechend härter wird  bis zum letzten Augenblick gerungen.     Den späteren Termin  haben die dänischen Initiatoren der Volksabstimmung durchgesetzt in der Erwartung, in Zone 2 könnten sich mehr Wähler für Dänemark entscheiden, welchen Weg Nordschleswig gehen wird. Etwa, um die wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem nördlichen Hinterland  Flensburgs zu erhalten.

 Flugblätter und Plakate unterliegen seit dem 18. Februar  einer Zensur durch die CIS, um  gröbste Exzesse zu verhindern. Der größte Demonstrationszug bietet einen Tag vor der Abstimmung   35 000 Teilnehmer auf.  Rund zwei Stunden bewegt  sich dieses Schaulaufen für die deutsche Seite durch die westliche Hälfte der Stadt.  Die dänische Flensburg-Fraktion regt sich im Schlussspurt des Wahlkampfs vor allem über eine Last-Minute-Androhung der Direktoren von  der Werft und der Metallfabrik Kupfermühle auf: Sie  würden die arbeitskräfte-intensiven Betriebe verlegen,  sollte Flensburg an Dänemark fallen.  

Kapp-Putsch platzt in die  Stunde der Entscheidung

In der letzten Sekunde platzt  als Bombe die Meldung vom Kapp-Putsch in den Grenzkampf: Die deutsche Reichsregierung ist aus Berlin geflohen, weil sich rechtsgerichtete Kreise in Militär, Verwaltung und Politik gegen die frischgegründete Weimarer Republik auflehnen. Einen Tag vor dem Plebiszit, am 13. März, verbreitet sich die Nachricht. Zunächst noch gerüchteumrankt, denn im Frühstadium des Kommunikationszeitalters dauert es, bis sich ein klares Bild der Lage bietet. Jedenfalls reicht die Kunde als Indiz dafür, wie wackelig die staatlichen Verhältnisse nach dem verlorenen  Weltkrieg in Deutschland sind. 

Schlangestehen vor dem Abstimmungslokal am 14. März 1920 auf Flensburgs Museumsberg Foto: Königliche Dänische Bibliothek

In Zone 2 dänische Mehrheit nur im Westen von Föhr

Inwieweit das die deutsche Seite Stimmen kostet, bleibt Spekulation.  Der Ausgang ist ähnlich deutlich wie in der 1. Zone am 10. Februar, nur unter umgekehrten Vorzeichen. 75,2 Prozent der Flensburger haben  sich für Deutschland entschieden,  24,8 für Dänemark. Im Durchschnitt der ganzen zweiten Zone ist es noch eindeutiger: 80,2 Prozent deutsche, 19,8 Prozent dänische Stimmen.     Die Wahlbeteiligung erreicht  90,75 Prozent. Lediglich in drei Dörfern im Westen von Föhr ergeben sich knappe dänische Mehrheiten. 

Noch Monate Zittern bis zur wirklichen Grenzziehung

Das letzte Wort haben die CIS und der alliierte Botschafterrat in Paris. Und die, so hat es der Versailler Vertrag festgelegt, würden den Verlauf nicht allein im Licht der Wählervoten, sondern  „auch unter Beachtung wirtschaftlicher und geographischer Gesichtspunkte“ festlegen. Das deuten viele  als  Generalklausel für Abweichungen von der Abstimmung. Entsprechend viel Fantasie entwickeln sowohl die deutsche als auch die dänische Seite – und  ringen nach dem Referendum um Änderungen. Letztlich  ohne Erfolg. Die Grenze fällt im Frühsommer exakt auf die Demarkationslinie der beiden Abstimmungszonen. Am 10. Juli 1920 nimmt  der dänische König Christian X. Nordschleswig durch einen symbolischen Ritt von Norden aus in Besitz. Und Hermann Bendix Todsen bleibt bis 1930 Oberbürgermeister von Flensburg.

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