Geschichte
Tondern 1943: Chef der Grenzgendarmerie platzt der Kragen
Tondern 1943: Chef der Grenzgendarmerie platzt der Kragen
Tondern 1943: Chef der Grenzgendarmerie platzt der Kragen
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Von deutschem „Gegenterror“ in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs über deutsch-dänische Feiern zum Stadtjubiläum der Wiedaustadt kurz vor dem Ende der Zusammenarbeitspolitik bis zum in Vergessenheit geratenen Wirken des nordschleswigschen Politikers und Völkerbund-Präsidenten Holger Andersen: Die jüngste Ausgabe der „Sønderjyske Årbøger“ ist da.
In der Gaststätte Bov Kro in Bau hat die Redaktion des Jahrbuches „Sønderjyske Årbøger" des nordschleswigschen Geschichtsvereins „Historisk Samfund for Sønderjylland“ am Donnerstag die Ausgabe 2023 der seit 1889 herausgegebenen Publikation vorgestellt.
Mads Mikkel Tørsleff stellte die Beiträge vor, die teilweise auch von anwesenden Autoren erläutert wurden.
Gemeinsame Feier in explosiver Lage
So berichtete Historiker Emil Bliksted Lange aus Aarhus über die angesichts der explosiven Lage in Dänemark kurz vor dem Ende der Zusammenarbeit der dänischen Regierung mit der deutschen Besatzungsmacht im August 1943 erstaunlich „friedlichen“ gemeinsamen Feierlichkeiten der dänischen und deutschen Einwohnerschaft am 5. August 1943. Anlass war die Verleihung der Stadtrechte an Tondern 700 Jahre zuvor.
Bliksted Lange erklärt in seinem Beitrag, dass die seit dem Beginn der Besetzung Dänemarks durch die Nazi-Wehrmacht wenig deutschfreundlichen dänischen Tonderaner ebenso wie die ab 1933 weitgehend nazifizierte deutsche Minderheit in der Wiedaustadt an gemeinsamen Feierlichkeiten festhielten.
Dänen feierten zähneknirschend
Während viele dänische Repräsentanten offenbar zähneknirschend beim teilweise volksfestartigen Jubiläum mitspielten, platzte angesichts der Festreden bei der Feier im Amtsratssaal dem Chef der dänischen Grenzgendarmerie, Oberst Svend Bartholin Paludan-Müller, der Kragen.
Paludan-Müller: In den nächsten 200 Jahren keine Nachbarschaft
Nach dem „Süßholzraspeln“ dänischer und deutscher Redner wetterte der nicht einmal ein Jahr später durch die Besatzer beim Versuch seiner Festnahme getötete Offizier drauflos: „Die deutsche Besetzung hat alle Formen der Nachbarschaft für 200 Jahre zerstört.“
Paludan-Müller hatte nicht vergessen, dass am 9. April 1940 mehrere seiner Grenzgendarmen von den Invasoren getötet worden waren. Und es folgte 1944 noch Schlimmeres – die Deportation zahlreicher Gendarme in deutsche Konzentrationslager.
Lokale Spitzen pikiert
Laut Recherchen Bliksted Langes reagierten die anwesenden Däninnen und Dänen pikiert angesichts des Ausbruchs von Paludan-Müller. Den dänischen Kommunalpolitikern, angeführt von Bürgermeister Johann Paulsen, der 1937 den bürgerlich-deutschen Vorgänger Johannes Thomsen abgelöst hatte, war es nämlich gelungen, die seit Jahren durch schrilles Nazi-Auftreten geprägten deutschen Tonderanerinnen und Tonderaner von aggressiven „Feierlichkeiten“ in aller Öffentlichkeit abzuhalten. Zum Jubiläum war die Stadt mit dänischen Fahnen geschmückt.
In Anwesenheit des dänischen Innenministers Jørgen Jørgensen und des Amtmannes in Tondern, Graf O. D. Schack, wurden Grüße des dänischen Königs verlesen. Auch Glückwünsche aus Lübeck wurden übermittelt, waren Tondern im Jahre 1243 doch Lübsche Stadtrechte verliehen worden. Der Aarhuser Historiker erläuterte, dass Hintergrund der friedlichen Feierlichkeiten trotz Krieges und Besatzung auch das gemeinsame Heimatbewusstsein in der Wiedaustadt gewesen sei, das die nationalen Gegensätze überlagerte.
Dass es dennoch rumorte, ist dem Beitrag zu entnehmen, in dem man zum deutschen Festgottesdienst in der Christkirche nachlesen kann, dass mehrere dänische Würdenträger vor diesem Teil der Gemeinschaftsfeier aus dem Gotteshaus verschwanden.
Deutscher Gottesdienst mit „Heldengedenken“
Der deutsche Geistliche Gustav Rühmann hatte in Anwesenheit von Amtmann und Minister zwar versöhnliche Worte zum deutsch-dänischen Verhältnis gefunden, aber sie mussten auch eine Ehrung in Uniformen der Nazi-Armee gefallener örtlicher „Helden“ über sich ergehen lassen, einschließlich „Schmuck“ der Kirche mit Hakenkreuzfahnen.
Als bemerkenswerte Begleitumstände erwähnt der Historiker, dass sowohl die dänische Presse als auch die örtliche NS-geprägte „Nordschleswigsche Zeitung“ den von Paludan-Müller in Kauf genommenen Eklat weitgehend verschwiegen habe.
Deutsche feierten im Schützenhof
Dass die deutsche Minderheit am 9. August 1943 später im „Schützenhof“ noch ganz anders zu feiern verstand, ist auch nachzulesen: Neben einem Vortrag des aus Tondern stammenden Kieler Historikers Professor Otto Scheel mit Hinweisen, dass Tondern, das 1920 in der Volksabstimmung fast 77 Prozent deutsche Stimmen verzeichnete, schon immer deutsch gewesen sei, meldeten sich zahlreiche Ehrengäste zu Wort: etwa Konteradmiral Bernhard Rogge, der „Führer“ der nordschleswigschen deutschen Nazis, Jens Möller, und andere führende braune Würdenträger, die ihre Ergebenheit gegenüber Adolf Hitler zum Ausdruck brachten.
Untergang des Nazi-Reiches absehbar
Emil Lange ließ auch nicht den Aspekt Anfang August 1943 außer Acht, dass sowohl die deutschen Nordschleswigerinnen und Nordschleswiger als auch die Däninnen und Dänen mitbekommen hatten, dass sich an allen Fronten des Zweiten Weltkriegs das Blatt zuungunsten des Nazi-Reiches gewendet hatte. Mit der Konsequenz, dass sich der dänische Widerstand gegen die Besatzung formierte. Das Ende der Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht war eingeläutet, es begannen die Monate mit verschärftem Terror der Besatzungsmacht, der erst am 5. Mai 1945 mit der Befreiung Dänemarks endete.
Politiker, Diplomat und Sammler antiker griechischer Schätze
Während der Präsentation im Bov Kro kam mit Helge Wiingaard ein Mitautor des Beitrags „Holger Andersen und die Antikensammlung der Haderslebener Katedralskole" zu Wort. Wiingaard stellt mit dem gebürtigen Haderslebener Holger Andersen (1890-1961) einen weitgehend in Vergessenheit geratenen Politiker vor, der dänisch gesinnter Nordschleswiger war, aber zeitlebens auf seinen für ihn bedeutenden Bildungsgang am vor 1920 preußischen Gymnasium „Johanneum“ in Hadersleben (Haderslev) verwies.
Die von Herzog Hans 1567 gegründete Schule, seit 1864 „Lateinische Schule zu Hadersleben" hieß, war 1898 mit dem Namen Johanneum zur Erinnerung an den Schulgründer versehen worden.
Holger Andersen, der nach seinem Schulgang mit Schwerpunkt in den Fächern Altgriechisch und Latein an deutschen Universitäten Theologie studiert hatte, war 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs über die damalige deutsch-dänische Grenze nach Dänemark geflüchtet, so Wiingaard.
Bei der Abstimmung 1920 Einsatz für dänisches Schleswig
Nach dem Ende des Krieges stellte sich Andersen in den Dienst der prodänischen Bemühungen zur Vereinigung möglichst großer Teile Schleswigs mit Dänemark. Nach dem Votum für einen Verbleib der Abstimmungszone 2 bei Deutschland am 14. März 1920 war Andersen Mitglied der dänischen Delegation, die in Paris und London für die Schaffung eines internationalisierten Freistaates in Flensburg warb. 1920 zog er als einziger Kandidat der Konservativen ins Folketing ein. Dort spielte er bis 1930 eine Rolle bei der Ausgestaltung der dänischen Nordschleswigpolitik und der Bedingungen, unter denen die deutsche Minderheit im Landesteil agieren konnte.
So war er Beigeordneter bei den deutsch-dänischen Verhandlungen über die Übertragung der Souveränitätsrechte nach dem Votum in Nordschleswig zugunsten einer Vereinigung mit Dänemark am 10. Februar 1920. Bis zu seinem Tod war Andersen seit 1943 Vorsitzender des einflussreichen dänischen Grenzvereins „Grænseforeningen".
Engagement im Völkerbund
International bedeutend war Andersens Engagement im Völkerbund, der Vorgängerorganisation der heutigen Vereinten Nationen (UNO). Er wurde in den 1920er-Jahren Hochkommissar und Präsident der internationalen Kommission, die nach dem Ende des türkisch-griechischen Krieges 1919 bis 1922 den bei der Friedenskonferenz in Lausanne vereinbarten „Austausch“ der in Griechenland beheimateten Türkinnen und Türken und der in der heutigen Türkei wohnenden Griechinnen und Griechen organisierte.
Hunderttausende verloren ihre Heimat
Eine Volksabstimmung wie im deutsch-dänischen Grenzland schien dort ausgeschlossen, Hunderttausende Menschen mussten in ihre jeweiligen Mutterländer emigrieren. Während seiner vielen Aufenthalte in Griechenland erwarb Andersen eine Reihe antiker Schätze, inspiriert von seiner Liebe zur antiken griechischen Kultur. Andersen berichtete, dass sein deutscher Lehrer Wilhelm Lange ihn am Johanneum für das Ursprungsland der Demokratie, Dichtung und Philosophie begeistert habe.
Die Mitautorin Annette H. Sørensen, sie ist Archäologin, hat die Sammlung Andersens unter die wissenschaftliche Lupe genommen, die dieser seinem Gymnasium, das seit 1920 den Namen Katedralskole trägt, vermacht. Wiingaard verwies darauf, dass die Antikensammlung in Hadersleben seit Jahrzehnten kaum beachtet werde, da die Schätze aus Sicherheitsgründen im Magazin verborgen liegen.
Terror durch „Peter-Gruppe“, FUEN, Militärmusiker und Deserteur
Auch die übrigen Artikel im neuen Jahrbuch verdienen Aufmerksamkeit. So der Beitrag von Martin Göllnitz über die im Dienste der deutschen Besatzungsmacht operierenden Peter-Gruppe, die zwischen 1943 und 1945 Terroraktionen wie die Ermordung des dänischen Dichters Kaj Munk durchführte. Morten Rostgaard Nissen, der den Beitrag des deutschen Historikers übersetzt hat, verriet, dass es bei den deutschen und dänischen Begriffen zum Geschehen zuweilen Unterschiede gebe.
So spreche man in Deutschland von „Gegenterror der Besatzer“, im Beitrag werden Aktionen in Nordschleswig vorgestellt. Dabei spreche man in Dänemark von „Besatzerterror“ angesichts eigener Widerstandsaktionen, die man selbstverständlich nicht als Terroranschläge bezeichne.
Weitere Artikel widmen sich der Geschichte der FUEN, des Zusammenschlusses europäischer Minderheiten, in der die deutsche Minderheit in Nordschleswig ebenso wie die dänische Minderheit in Südschleswig stets eine wichtige Rolle gespielt hat.
Der Beitrag von Martin Corfix handelt von den dänischen Hornisten, die als Militärmusiker oftmals bereits als 14- bis 17-Jährige mit den bewaffneten Streitkräften an den Kämpfen der Schleswigschen Kriege 1848-1850 und 1864 teilnehmen mussten. Frederik Lynge Vognsen stellt die Tagebücher Dorothea Nissens aus den Jahren 1863-1867 vor, die als Kapitänsgattin ihren Mann auf Chinareisen begleitete. Lisbeth Aagaard Lykke berichtet über Søren Outzen, der als Nordschleswiger während des Ersten Weltkriegs nach Fronteinsätzen und Verwundung desertierte und sich in Dänemark in Sicherheit brachte.
Außerdem sind im Jahrbuch zahlreiche Buchrezensionen sowie Informationen aus „Historisk Samfund for Sønderjylland" und den nordschleswigschen Museen zu finden.
Das Jahrbuch wird an die Mitglieder des Vereins versendet und ist über den Verein oder im Buchhandel für 270 Kronen erhältlich.