Sankelmark 2024
Hans Christian Davidsen: Der Mai 1945 ist in Flensburg fast unsichtbar
Hans Christian Davidsen: Der Mai 1945 ist in Flensburg fast unsichtbar
Davidsen: Der Mai 1945 ist in Flensburg fast unsichtbar
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Der Kulturredakteur von „Flensborg Avis“ spricht in seinem Vortrag „Die letzte Zuflucht der Nazis: Flensburg Mai 1945“ über Opfer und Täter des Regimes in den letzten Tagen des Deutschen Reiches. In Flensburg sind die Ereignisse für Davidsen zu wenig sichtbar. Er wünscht sich ein Dokumentationszentrum und Infotafeln.
Wer im Sommer mit einem Softeis durch Flensburg (Flensborg) läuft, der kann etwas über die ehemalige Rumstadt oder das Kapitänsviertel erfahren. Dass die Hafenstadt am Ende des Zweiten Weltkriegs drei Wochen lang die provisorische Reichshauptstadt und gleichzeitig ein letzter Zufluchtspunkt für Nazigrößen und weitere Nationalsozialisten war, ist in der Öffentlichkeit nicht sichtbar.
Das zumindest meint Hans Christian Davidsen. Der Kulturredakteur von „Flensborg Avis“ und Autor mehrerer Bücher sprach bei der Neujahrstagung der deutschen Minderheit in Nordschleswig, die in der Akademie Sankelmark stattfand, über die sogenannte „Rattenlinie Nord“ und die Ereignisse von Ende April bis zum 23. Mai 1945.
Der in Hadersleben geborene Davidsen beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema und stützte seine Recherchen auch auf die Forschung des Flensburger Wissenschaftlers Gerhard Paul. Für sein Buch suchte der Redakteur auch die Orte des Geschehens auf.
Menschen müssen auf Stolpersteine stoßen
Während seines Vortrags fragt er immer wieder: „Warum sind die Ereignisse so unsichtbar?“ Davidsen wünscht sich ein zentrales Dokumentationszentrum und Infotafeln an Täter- und Opferplätzen in Flensburg und dem Umland. „Es müssen regelrecht Stolpersteine sein, über die Menschen stolpern, wenn sie in Flensburg unterwegs sind.“ Dabei müssten die Tafeln explizit Opfer und Täter benennen – am Hafen, in Weiche, in Fahrensodde oder an der Marineschule. Dort sind noch Zeichen des NS-Regimes sichtbar, prangt etwa der Reichsadler noch am Tor der Schule für Strategische Aufklärung.
Denn hier hat sich, das wird schnell deutlich, in den Wochen vor der Festnahme der letzten Reichsregierung am 23. Mai 1945 Grauenvolles zugetragen. Zunächst flüchteten zahlreiche Nazigrößen nach Schleswig-Holstein, das zu diesem Zeitpunkt noch unter Kontrolle der Wehrmacht stand. Man schätzt, dass 2.000 bis 3.000 SS-Angehörigen beim Polizeirevier am Norderhofenden auf Geheiß Heinrich Himmlers neue Identitäten beschafft wurden. Als einfache Soldaten tauchten sie anschließend unter.
Es müssen regelrecht Stolpersteine sein, über die Menschen stolpern, wenn sie in Flensburg unterwegs sind.
Hans Christian Davidsen
Hinrichtungen und tragische Entscheidungen
Noch am 5. Mai 1945 sinnierte Polizeichef und Reichsinnenminister Himmler noch über einen SS-Staat Schleswig-Holstein, scheiterte aber in Verhandlungen mit den westlichen Alliierten und konnte auch Großadmiral Karl Dönitz nicht mehr für seine Sache überzeugen. Hitlers Nachfolger als Reichskanzler autorisierte von der Marineschule Mürwik aus am 8. Mai 1945 die Kapitulation und somit das Ende des Dritten Reiches. Noch bis zur Festnahme der Dönitz-Regierung am 23. Mai erfolgten tragische Entscheidungen, unter anderem Hinrichtungen.
„Es ist merkwürdig, dass dieses Theater noch weitergeführt wurde“, sagt Davidsen. So verdursteten und verhungerten etwa KZ-Häftlinge in geschlossenen Güterwaggons am Hafen von Flensburg und im Stadtteil Weiche – bewacht von SS-Soldaten.
Es ist merkwürdig, dass dieses Theater noch weitergeführt wurde.
Hans Christian Davidsen
Vorbild Knivsberg
Dass das Ende des Deutschen Reiches unzertrennbar mit Flensburgs Geschichte verbunden ist, ist für Davidsen Grund genug, die Orte der Opfer und Täter deutlicher zu zeigen. „Hut ab, was die deutsche Minderheit auf dem Knivsberg gemacht hat“, sagt der Haderslebener auf eine Nachfrage aus dem Publikum. Davidsen würde eine künftige Zusammenarbeit zu dem Thema mit Flensburg begrüßen.
Der Forschungsleiter der Minderheit, Jon Thulstrup, und Hauke Grella vom Deutschen Museum Nordschleswig sehen hingegen zunächst keine Verknüpfungspunkte, wie sie auf Nachfrage erklären. Zu viel Geschichte müsse allein noch auf Seiten Nordschleswigs aufgearbeitet werden. Allerdings würden beide ein Dokumentationszentrum in Flensburg durchaus befürworten, wenn sich Bau und Betrieb finanzieren lassen.
Laut Davidsen ist der SSW-Politiker und Leiter des Dannewerk-Museums, Lars Erik Baethge, bereits dabei, Erfahrungen zu sammeln, wie so ein Dokumentationszentrum aussehen könnte.
Stadt sieht Geschichte „gut dokumentiert“ – mit Potenzial
Bei der Stadt Flensburg ist das Thema auf Nachfrage des „Nordschleswigers“ zwar weiterhin präsent, „ein Dokumentationszentrum ist allerdings eine riesige Investition und auch eine Ressourcenfrage“, sagt Stadtsprecher Clemens Teschendorf. Er findet, dass auch der Bund und die Landeszentrale für politische Bildung ins Boot geholt werden müssten. „Es ist ja keine reine Flensburger Geschichte.“ Das Flensburger Kapitel wäre für Teschendorf auch etwas für das geplante „Haus der Landesgeschichte“.
Wer, wie Davidsen sagt, mit dem Softeis um den Hafen spaziert, sieht jedoch recht wenig von dieser Geschichte. Dazu Teschendorf: „Ich glaube nicht, dass die Stadt das Thema versteckt, wir gehen offen damit um.“ Dieser Teil Flensburger Geschichte sei durch Informationstafeln und Gedenksteine, bei Stadtführungen und auch durch Buchpublikationen, etwa durch den früheren Stadtarchivar Broder Schwensen und Wissenschaftler Gerhard Paul, „gut dokumentiert“.
Doch er muss auch zugeben, dass gerade Flensburgs Rolle am Schluss weniger präsent sei. „Hier könnte man im Hinblick auf immer weniger Zeitzeugen mehr beleuchten – zum Beispiel im Kontext Bildung und Schule“, so Teschendorf.
Für die Stadt ist das Thema derzeit trotzdem aktuell. „Im kommenden Jahr liegt das Kriegsende 80 Jahre zurück. Wir erörtern derzeit Möglichkeiten, wie wir das Gedenken inhaltlich gut begehen, etwa durch eine Tagung oder einen Gedenkort“, so Teschendorf.