50 Jahre EU-Mitgliedschaft
Es lebe die Königin – lang lebe Europa
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Es lebe die Königin – lang lebe Europa
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Dänemark wählt den gemeinsamen europäischen Weg. Dabei hilft ein deutscher Politiker tatkräftig und entscheidend mit.
Des einen Tod ist des anderen Brot. Das galt auch in der großen Politik – in der dänischen Europa-Politik – denn der Rücktritt des französischen Präsidenten Charles de Gaulle 1969 öffnete für Dänemark das Startfenster nach Europa, das der Veto-General in Paris so lange blockiert hatte.
Nun gab es plötzlich Alternativen für die dänische Politik, denn der seit 1968 regierende Staatsminister von der Radikalen Venstre, Hilmar Baunsgaard, hatte gleich nach seinem Amtsantritt eine nordische Initiative gestartet. Unter dem Begriff „NORDEK“ sollte eine nordische Zollunion Dänemark – vorläufig – angesichts der noch unklaren EWG-Perspektiven retten. Nordische Träumereien fanden nicht nur breite Unterstützung in Dänemark.
Schon 1948 hatte der sozialdemokratische Staatsminister Hans Hedtoft eine nordische Verteidigungsallianz ins Leben rufen wollen, doch die dänischen Pläne scheiterten an der schwedischen Neutralität und an der norwegischen Haltung, lieber ein Militär-Bündnis mit den USA (Nato) einzugehen.
Als Ersatz sozusagen wurde 1951 nach dänischer Initiative der Nordische Rat gegründet, dem die Parlamente auf Island, in Norwegen, Schweden und Dänemark 1952 ihre Zustimmung erteilten, 1956 folgte dann auch Finnland. Der Nordische Rat schuf einen gemeinsamen nordischen Arbeitsmarkt und 1955 außerdem eine Nordische Passunion.
Alternative NORDEK scheitert an Moskau
Im Juni 1968 wurde unter der Leitung des Nordischen Rates eine nordische Beamtengruppe gebildet, die am 17. Juli 1969 ihren Vertragsentwurf vorlegte. Als de Gaulle zurücktreten musste, lag der NORDEK-Vertrag bereits zur Unterschrift in den Hauptstädten vor, obwohl die sechs EWG-Länder auf einem Gipfel im Dezember 1969 in Den Haag schon den Weg für Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Dänemark und Irland freigemacht hatten.
„NORDEK“ sollte aber mehr als nur eine gemeinsame Landwirtschafts- und Fischereipolitik umfassen, gemeinsame Institutionen waren u. a. für die Industrieproduktion und den Energie-Sektor vorgesehen. Der Vertragsentwurf wurde vom Nordischen Rat angenommen und empfohlen, doch im März 1970 kam dann ein Veto aus Helsinki.
Die Sowjetunion setzte das neutrale Finnland unter Druck, und die Finnen wollten ihren großen, mächtigen Nachbarn nicht verärgern. Dänemark, Norwegen und Schweden versuchten noch verzweifelt eine letzte nordische Rettungstat. Die drei Länder wollten anstelle von „NORDEK“ nun die „SKANDEK“ gründen, doch auch dieser Versuch scheiterte.
Nun war eine EWG-Mitgliedschaft realistisch – jedenfalls für Norwegen und Dänemark, die nun Verhandlungen mit Brüssel aufnahmen, während die Schweden aus Gründen ihrer Neutralität damals auf einen EWG-Antrag verzichteten.
Norden wieder getrennt
Der Norden ging also nun wieder getrennte Wege; Norwegen und Dänemark bewarben sich erneut um eine Mitgliedschaft, und dabei spielten für Dänemark auch personelle Veränderungen eine große Rolle – nicht durch de Gaulles Rücktritt. Am 21. Oktober 1969 wählte der Bundestag den SPD-Politiker Willy Brandt zum neuen deutschen Bundeskanzler. Brandt, dessen enge persönliche Beziehungen zum Norden bekannt waren, hatte sich bereits als Außenminister nachdrücklich für Dänemark in der EWG eingesetzt.
Und auch in Kopenhagen gab es eine proeuropäische Wachablösung: der Sozialdemokrat Jens Otto Krag übernahm wieder die Regierung nach dem Scheitern des VKR-Kabinetts unter Leitung des Radikalen Hilmar Baunsgaard, dessen nordische Vorlieben nicht von seinen stark proeuropäischen Regierungspartnern Venstre (Landwirtschaft) und Konservative (Industrie) geteilt wurden.
Die Aufnahmeverhandlungen verliefen rasch und problemlos. Eigentlich war eine fünfjährige Übergangsperiode vorgesehen, doch der wichtigen dänischen Landwirtschaft (vor allem dem Rinderexport) wurde eine rasche Ausnahmeregelung auf dem Agrarmarkt der EWG eingeräumt.
Krag wollte Titel Königin Margrethe I.
Der alte und neue Staatsminister hatte gleich Anfang 1972 eine historisch-traurige Pflicht zu erfüllen, die – im Gegensatz zur Europa-Debatte – das dänische Volk in großer Einigkeit sammelte: der Tod von König Frederik IX. am 14. Januar und die sogenannte Thronbesteigung, die in Dänemark nicht – wie in anderen Monarchien – mit einer Krönung besiegelt wurde, sondern durch eine Proklamation von einem Balkon aus auf Schloss Christiansborg.
„König Frederik IX. ist tot, lange lebe König Margrethe II.“, rief Krag am Tag danach in drei Richtungen und schloss mit einem neunfachen Hurra ab.
Die 31-jährige Königin, die in der Januar-Kälte fröstelnd-schüchtern neben Krag stehend den Beifall auf dem Schlossplatz von rund 75.000 Dänen entgegennahm, war nun offiziell Margrethe II.
Krag wollte ihr ursprünglich den Titel Margrethe I. verleihen, was die junge Königin aber unter Hinweis auf die erste Königin Margrethe (die einst über den ganzen Norden regierte) nicht akzeptieren wollte – ebenso wie sie eine von Krag wegen des neuen Mediums Fernsehen gewünschte Änderung am Ritual abgelehnt hatte.
Krags Füller fehlte EWG-Tinte
Wenige Tage später, König Frederik war noch nicht beigesetzt, bekam Krag am 22. Januar aber seinen Willen: Im Brüsseler Egmontpalais unterschrieb er zusammen mit seinen Kollegen aus Großbritannien, Irland und Norwegen den Aufnahmevertrag zur EWG (damals auf dänisch: EF) mit dem offiziellen Beitrittstermin 1. Januar 1973.
Krag leistete die historische Unterschrift gemeinsam mit seinem Marktminister Ivar Nørgaard und Botschafter Jens Christensen, der ihm seinen eigenen Füller zur Unterschrift lieh, weil Krags Füller die Tinte just in dieser historischen Stunde ausgegangen war.
Krag: Kloß im Hals bei Freund Willy
Im Februar besuchte Krag, als überzeugter Europäer vor allem in Deutschland anerkannt, Bundeskanzler Brandt in Bonn. Auch als dessen Gast auf dem Venusberg, wo Deutsch und Dänisch-Norwegisch gesprochen wurde.
Krag sollte später eine Rede in deutscher Sprache halten, was ihm jedoch laut Eintragung in seinem Tagebuch deutlich schwerfiel. „Deutsch zu sprechen, ist wie ein Kloß im Hals.“
Am Rande traf Krag, der sich in Bonn ein Buch von Hermann Hesse gekauft hatte, privat auch mit dem ehemaligen CDU-Bundeskanzler Ludwig Erhard zusammen, den er früher in Kopenhagen getroffen und schätzen gelernt hatte. Erhard, der den kritischen Kurs von de Gaulle nie geteilt hatte, hoffte sehr auf eine dänische EWG-Mitgliedschaft – ähnlich wie Schleswig-Holsteins CDU-Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg, der im April Krag in Kopenhagen aufsuchte und ihm eine Sammlung Beethoven-Platten mitbrachte.
Brandts Dank in Apenrade
Mitte Mai holte Krag, dem die EWG-Zustimmung gar nicht sicher schien, den in Dänemark so beliebten Bundeskanzler Brandt zur Unterstützung seiner Ja-Kampagne ins Land, dem 1971 der Friedensnobelpreis verliehen worden war und der gerade zuvor einen hochdramatischen Misstrauensantrag im Bundestag überlebt hatte.
Beide Regierungschefs besuchten auch die Minderheiten südlich und nördlich der Grenze. „Apenrade 24 Stunden im Blickpunkt“, meldete „Der Nordschleswiger“.
Krag war dabei in Apenrade (Aabenraa) aufgefallen, dass Brandt „etwas fülliger erschien als normal“. Der düstere Hintergrund: Brandt trug angesichts von Attentatsdrohungen in Apenrade eine schwere, schusssichere Weste. Erstaunlich, dass der Bundeskanzler nur wenige Tage vor der historischen Entscheidung über die Ostpolitik im Bundestag (die eine knappe Mehrheit für die umstrittenen Ostverträge brachte) mit solchem Zeitaufwand in Dänemark für ein Ja warb.
In seiner – oft von Beifallsstürmen unterbrochenen – Rede in der „Sønderjyllandshalle“ unterstrich er: „Dänemarks demokratische Kalorien sind in der EWG hochwillkommen.“
Dass Krag so sehr auf die Ja-Karte Brandt setzte, hing nicht nur mit der alten persönlichen Freundschaft zusammen, die beide sozialdemokratischen Regierungschefs miteinander verband: Brandt dankte mit seinem Engagement auch Krag dafür, dass er seine Genossen in Kopenhagen disziplinierte und ihnen eine frühe dänische Anerkennung der DDR verweigerte, die ihm zu Hause nur neue innenpolitische Schwierigkeiten bereitet hätte.
Für Krag war die hohe persönliche Reputation von Brandt in Dänemark nicht zuletzt als „Abwehr“ gegen die anti-deutsche Kampagne vieler EU-Gegner gedacht, die vor einem Ausverkauf Dänemarks, ja sogar vor einem „Gau Nordmark“ warnten.
Dänen-Angst vor deutscher Dominanz
Eine Leser-Umfrage der Zeitung „BT“ hatte 62,6 Prozent für ein Nein gebracht, und alarmierend waren die dabei angeführten Gründe: Es ging vor allem um die Furcht vor einem Verlust der nationalen Souveränität und um Bedenken gegen einen freien Arbeitsmarkt, doch das Hauptargument lautete: Angst vor deutscher Dominanz! Der gemeinsame „deutsche Feind“ ließ den Journalisten Paul Hammerich sogar von einer peinlichen „Besatzungs-Nostalgie“ unter seinen Landsleuten sprechen.
Offen war in der dänischen Europa-Debatte die Frage, ob eventuell eine 5/6-Mehrheit des Folketings, wie es das Grundgesetz erlaubt, ausreichen würde, um den EWG-Beschluss nur parlamentarisch herbeizuführen, aber ein juristisches Gutachten verwarf diese Überlegung.
Krags Regierung unterstützte nun den Plan einer verpflichtenden Volksabstimmung. Am 7. September 1972 entschied sich das Folketing mit 147:34-Stimmen klar für den EWG-Beitritt, doch die letzte Entscheidung lag nun am 2. Oktober in den Händen des dänischen Volkes.
Die Dänen waren in ihrer Haltung gespalten, vor allem junge Leute und viele Intellektuelle standen dem – wie sie es nannten – „römisch-katholischen Projekt“ skeptisch und ablehnend gegenüber. Der Riss ging quer durch alle Parteien, besonders hart betroffen waren die Sozialdemokraten und die Radikale Venstre.
Krag kämpfte auch gegen die Nein-Stimmen in der eigenen Fraktion, u. a. von Svend Auken und Ritt Bjerregaard, und stieß auch in großen Teilen der Gewerkschaften auf harten Widerstand. Einer der wenigen Gewerkschaftsführer, die für den EWG-Beitritt eintraten, war Anker Jørgensen, der seit 1968 die Spezialarbeiter-Gewerkschaft (DASF) leitete. Er gehörte zwar ursprünglich zu den Skeptikern, doch nun trat er mutig für den EWG-Beitritt ein, obwohl er von Werftarbeitern in Helsingør als „Verräter der Arbeiterklasse“ diffamiert wurde.
Und es gab eine weitere große Unsicherheit – Norwegen! Während Dänemark von Anfang an nicht ohne Großbritannien in die EWG eintreten wollte, hatte Kopenhagen kein dänisch-nordisches Junktim hergestellt. Krag hielt daran fest, dass die Volksabstimmung in Norwegen vor dem dänischen Referendum am 2. Oktober stattfinden sollte. Eine falsche Reihenfolge, kritisierte der politische Wortführer der Konservativen, Poul Schüter, im „Nordschleswiger“ die Taktik des Staatsministers.
Schockiert musste Krag feststellen, dass die norwegischen Wähler am 25. September den Antrag ihrer Regierung auf eine EWG-Mitgliedschaft mit 53,5 Prozent abgelehnt hatten.
Krag unsicher nach Norwegens Nein
Welche Folgen hatte das norwegische Nein für Dänemark? Die Befürworter mussten im Endspurt durch eine – von Industrie und Landwirtschaft finanzierte – massive Werbekampagne ein drohendes Aus verhindern. Während die Gegner emotional mit dem Norden als Nein-Argument kämpften, sprachen sich vier (noch lebende) Staatsminister unterschiedlicher Parteien in einer landesweiten Anzeige gemeinsam für ein Ja aus: Erik Eriksen (Venstre), Viggo Kampmann (Sozialdemokratie), Hilmar Baunsgaard (Radikale Venstre) und J. O. Krag (Sozialdemokratie).
Sie waren höchst unterschiedlich in vielen politischen Fragen, doch einig in einem Punkt: Ja zu Europa.
Und auch für die dänische Hausfrau gab es ein handfestes Ja-Argument: Bei einem Nein sei – wie Krag andeutete – eine Abwertung der Dänen-Krone wahrscheinlich unumgänglich. Dann würde ein Pfund Kaffee statt 13,35 künftig 15,43 Kronen kosten, doch in einer landesweiten Anzeige versprach die Frau von Ex-Staatsminister Hilmar Baunsgaard, Egone, hingegen stabile Kaffeepreise – aber selbstverständlich nur bei einem Ja. Und im dänischen Fernsehen trat ein europäischer „Superstar“ auf: Willy Brandt, übrigens nicht in der sozialdemokratischen Wahlsendung, lockte die dänischen Fernsehzuschauer bei Venstre ins Ja-Lager!
Nur Kopenhagen stimmte Nein
Die Meinungsumfragen deuteten zuletzt zwar auf ein knappes Ja hin, doch das Ergebnis überraschte dennoch: Mit 63,4 Prozent der abgegebenen Stimmen siegte das Ja klar vor dem Nein mit 36,6 Prozent. Bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von 90,1 Prozent war die Zustimmung besonders hoch in Jütland und unter den älteren Wählern, die Hauptstadt Kopenhagen stimmte hingegen mit Nein – und übrigens auch Grönland.
Dem großen Europäer Krag war sein letzter entscheidender Wurf gelungen. Krag ging es um Dänemark, um Sicherung und Ausbau des von ihm 1945 mitentworfenen sozialdemokratischen Plans „Danmarks Fremtid“ mit Perspektiven für den sozialen Wohlfahrtsstaat, aber Krag war auch Außenpolitiker und hatte – wie der Historiker Poul Villaume hervorhob – den Wunsch, durch den westeuropäischen Integrationsprozess die Nachbarschaft zwischen Deutschland und Frankreich weiter zu festigen.
Dass es ihm auch um das nach 1945 und auch noch 1972 belastete deutsch-dänische Verhältnis ging, ist unbestritten. Das Duo Krag-Brandt sicherte mit dem dänischen Beitritt zur EWG die nach 1945 wichtigste Voraussetzung für eine gute Nachbarschaft zwischen Dänemark und Deutschland, und für eine Zukunft, die durch eine demokratische Entscheidung des gesamten dänischen Volkes auf eine breite, entwicklungsfähige, ja historische Grundlage gestellt wurde.
Nach Krags Rücktritt kommt der „kleine Napoleon“
24 Stunden später trat Jens Otto Krag – nun im In- und Ausland zum Staatsmann geadelt – ans Rednerpult des Folketings und gab – nur wenige waren vorher eingeweiht – zur allgemeinen Überraschung seinen Rücktritt bekannt.
Wenige Tage später wurde der „kleine Napoleon“, wie Anker Jørgensen genannt wurde, neuer sozialdemokratischer Staatsminister. Er trat ein schweres Erbe an: innenpolitisch, aber auch in Europa. Denn – so der Kommentar in der französischen Zeitung „Le Monde“ – das dänische Ja war nur eine „mariage de raison“, also eine Vernunftsehe.
Krag und seine Zweifel
In der Nacht vor der Unterschrift des EWG-Vertrages im Januar 1972 war Krag in seinem Brüsseler Hotelzimmer bei einem Gute-Nacht-Whisky ins Grübeln geraten. „Ist es nun richtig zu unterschreiben?“, fragte er plötzlich zum Entsetzen seiner ihn umgebenden engsten Mitarbeiter.
Krag gab aber prompt selbst die Antwort: „Mag sein, dass es eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa geben wird, aber das wäre wohl nicht das Schlimmste angesichts der bösen Erfahrungen, die Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht hat.“