Bundesregierung
Stellvertreter der Gesellschaft: Die Ampel feiert den Streit
Stellvertreter der Gesellschaft: Die Ampel feiert den Streit
Stellvertreter der Gesellschaft: Die Ampel feiert den Streit
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Blockierte Regierung? Zerstrittene Partner? Nicht doch! Man trage im Kleinen die großen Fragen der Zeit aus, meinen die Ampel-Spitzen. Auf ihr Ergebnis scheinen sie außerordentlich stolz.
Fast drei Tage Ringen hinter verschlossenen Türen. Am Ende habe sich das alles gelohnt, verkündeten die Spitzen der Ampel-Koalition am Dienstagabend. «Wir haben echte Durchbrüche erzielt, wirkliche Paradigmenwechsel und deshalb spricht das Ergebnis einfach für sich», sagte FDP-Chef Christian Lindner nach dem Verhandlungsmarathon des Koalitionsausschusses in Berlin. Wenn das immer so laufe, «dann sollten wir zukünftig jeden Monat drei Tage in Klausur gehen».
Unter dem Strich standen eine Reihe teils überraschender Beschlüsse zum Klimaschutz im Verkehr. Eine Rechtfertigung für den schier endlosen Koalitionsstreit hatten die Koalitionäre auch parat: Die Ampel-Regierung trage hier sozusagen im Kleinen die Konflikte der Gesellschaft aus. Das lange Gerangel klingt nun wie etwas Wünschenswertes.
«Der mühselige Arbeits- und Verhandlungsprozess, den sich die Koalitionsparteien und meine Regierung jetzt vorgenommen haben, ist ja stellvertretend für die ganze Gesellschaft auf ihrem Weg in eine wirtschaftlich erfolgreiche Moderne», sagte Kanzler Olaf Scholz (SPD). Bedeutet: So zerstritten, wie sich die Koalition zuletzt präsentierte, so uneins sei auch die Gesellschaft, wenn es um den Klimaschutz und seine Kosten gehe. Schon vor Ende versprach der Kanzler überschwänglich «sehr, sehr, sehr gute Ergebnisse».
Auch die Parteichefs von SPD, Grünen und FDP zeigten sich hoch zufrieden. Die Beschlüsse garantierten, «dass viele Dinge im Land schneller laufen werden», versprach SPD-Chef Lars Klingbeil. Deutschland solle modernisiert werden, Infrastrukturprojekte sollten schneller vorankommen, die erneuerbaren Energien zügiger ausgebaut werden. Damit löse sich die Koalition von ihrer Agenda des vergangenen Jahres, mit den Folgen des russischen Kriegs in der Ukraine klarzukommen und wende den Blick nach vorn. Grünen-Chefin Ricarda Lang versprach, die Ampel gehe jetzt Strukturreformen an, «um dieses Land voranzubringen».
Deutliche Stärkung der Bahn
Die Ampel will «erhebliche Mittel» in die Modernisierung und Erweiterung des Schienennetzes stecken. Bei der Deutschen Bahn gebe es einen Investitionsbedarf bis 2027 von rund 45 Milliarden Euro. Dieser soll unter anderem durch Einnahmen aus der Lkw-Maut auf Autobahnen und Bundesstraßen gedeckt werden. Bereits im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP eine Reform der Lkw-Maut vereinbart, deren Einnahmen bisher nur in Fernstraßen gehen.
Bei der Nutzungsgebühr soll nun zum 1. Januar 2024 ein CO2-Aufschlag von 200 Euro je Tonne eingeführt werden. Emissionsfreie Lkw sollen bis Ende 2025 von der Maut befreit und anschließend nur 25 Prozent des regulären Satzes zahlen müssen. Zudem sollen ab 2024 auch schon kleinere Lkw ab 3,5 Tonnen in die Mautpflicht einbezogen werden. «Handwerksbetriebe werden ausgenommen», heißt es im Beschlusspapier.
Für Bahn-Vielfahrer soll das 49-Euro-Ticket ohne Aufpreis in die Bahncard 100 integriert werden, so dass diese in allen Städten auch für den Nahverkehr genutzt werden kann.
Schnellerer Ausbau auch von Autobahnen
Darüber hatte die Koalition zuvor heftig gestritten: Die FDP wollte nicht nur Bahnstrecken, sondern auch Autobahnen schneller ausbauen, um Staus bei mehr Güterverkehr zu verhindern. Die Grünen stemmten sich lange dagegen. Nun soll eine eng begrenzte Zahl von besonders wichtigen Autobahn-Projekten eine Sonderstellung bekommen. Das soll diese Projekte beschleunigen, unter anderem durch weniger aufwendige Umweltschutzprüfungen. Lindner sprach von 144 Projekten. Der Bahnbeauftragte der Bundesregierung, Staatssekretär Michael Theurer (FDP), nannte als Beispiele für eine Planungsbeschleunigung von Straßen an Engpässen die Autobahnen A5, A6 und A8.
Heizungsaustausch soll gefördert werden
Die Ampel-Koalition will den Einbau klimafreundlicherer Heizungen angehen - dabei soll es einen sozialen Ausgleich geben. «Man kann sagen: Niemand wird im Stich gelassen», betonte Lang. Details nannten die Koalitionäre zunächst nicht. Das Geld soll laut Lindner aus dem Klima- und Transformationsfonds kommen, einem Geldtopf außerhalb des regulären Bundeshaushalts. Heizungen, die derzeit fossile Energieträger nutzen, sollen laut Lindner weiter betrieben werden können, wenn sie mit klimafreundlichen Gasen betrieben werden. Bereits vor einem Jahr hatte die Koalition sich im Grunde schon geeinigt, dass ab dem 1. Januar 2024 möglichst jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden soll.
Paradigmenwechsel beim Naturschutz
Bei Eingriffen in Natur und Landschaft, beispielsweise durch den Bau von Windrädern oder Straßen, soll künftig Geld als Kompensation gezahlt werden können. «Damit können die Vorhabenträger Infrastrukturprojekte einfacher und schneller planen», erklärte die Ampel. Über die Mittel sollen dann größere und zusammenhängendere Flächen gekauft werden, um eine Renaturierung und den Naturschutz zu stärken – ein Aspekt, den auch viele Umweltorganisationen für sinnvoll halten.
Neuregelung bei Klimaschutzvorgaben
Die Ampel will mehr Flexibilität bei der Erreichung der deutschen Klimaziele ermöglichen. Bisher wird der jährliche Ausstoß an Treibhausgasen für Wirtschaftsbereiche wie Energie, Industrie, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft sowie Abfallwirtschaft erhoben. Überschreitet ein Bereich die vereinbarte Jahresmenge, müssen die Ministerien sogenannte Sofortprogramme für mehr Klimaschutz vorlegen. An dieser Erhebung für jeden Sektor will die Koalition zwar festhalten, nachsteuern soll die Regierung künftig aber erst nach zwei aufeinanderfolgenden Zielverfehlungen - und zwar für alle Sektoren zusammen.
Keine Haushaltswirkung
Die Beschlüsse wirken sich laut Lindner nicht direkt auf den Bundeshaushalt für das kommende Jahr aus. So solle die Stärkung der Bahn-Infrastruktur über die Lkw-Maut finanziert werden und die Förderprogramme für Heizungen aus dem Klimafonds. Der Streit um den Etat für 2024 und die Folgejahre ist demnach noch nicht gelöst. Er sei beim Koalitionsausschuss nur kurz angerissen worden, sagte Lindner. Auch zur Finanzierung und Gestaltung der ab 2025 geplanten Kindergrundsicherung äußerten sich die Koalitionäre nicht. In dem Programm sollen staatliche Leistungen für Familien wie Kindergeld und Kinderzuschlag zusammengefasst werden. Umstritten ist, ob auch Sätze erhöht werden.
Auch nach dem fast dreitägigen Verhandlungsmarathon sind also nicht alle Streitfragen der Ampel-Koalition gelöst. Bis zu 30 Gesetzesvorhaben seien blockiert, hat die «Süddeutsche Zeitung» unlängst gezählt. Der Ton sei «ziemlich ruppig innerhalb der letzten Woche» gewesen, räumte Lang nach den Verhandlungen ein. «Das ist keine Frage. Da müssen wir uns auch alle drei an die eigene Nase fassen, beziehungsweise die Nasen unserer Parteien.» Am Ende seien die Ergebnisse aber vielleicht besser, «als wenn wir alle nur mit uns alleine verhandeln würden».
Lindner betonte kryptisch den Wert von Kommunikation: «Man schweigt sich auseinander und man diskutiert sich zusammen. Ich glaube, das ist das Gefühl, was wir als Koalitionspartner am Ende dieses intensiven Beratungsprozesses teilen.»