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75 Jahre SSW: Eine Minderheitenpartei im Höhenflug

75 Jahre SSW: Eine Minderheitenpartei im Höhenflug

75 Jahre SSW: Eine Minderheitenpartei im Höhenflug

Flensburg
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Der SSW-Landesvorsitzende Christian Dirschauer (links) und der SSW-Bundestagsabgeordnete Stefan Seidler Foto: SSW Presse/Karin Riggelsen, Montage

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Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) feiert im September sein 75-jähriges Bestehen im Kieler Landtag. „Der Nordschleswiger“ hat den schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden Christian Dirschauer und den Bundestagsabgeordneten Stefan Seidler gefragt, warum sie ihre Partei im Höhenflug sehen. Der Politikwissenschaftler Wilhelm Knelangen hat eine eigene Erklärung.

Die Partei der dänischen Minderheit in Südschleswig feiert Jubiläum. Seit dem 25. Juni 1948 vertritt der Wählerverband die Interessen der Bevölkerungsgruppe. Die Partei ist im Kieler Landtag seit 1958 durchgehend und mit Stefan Seidler seit September 2021 auch wieder im Bundestag vertreten. Das soll am 27. September im Kieler Landtag gefeiert werden. Im ersten Teil der SSW-Geschichte fragt „Der Nordschleswiger“ nach: Was sind die Gründe für den Höhenflug?

Von der Bekenntniswahl zur Alternative

Klar ist, der SSW surft auf der Erfolgswelle. Immer mehr Menschen, die nicht der dänischen oder friesischen Minderheit angehören, wählen die Partei. Was sie ausmacht, das kann der Kieler Politikwissenschaftler Wilhelm Knelangen beantworten: „Es sind im Prinzip zwei Punkte. Zum einen ist der Minderheitenkonflikt, die nationale Frage, nicht mehr so stark ausgeprägt, und es ist nicht entscheidend, auf welche Seite man sich stellt“, sagt er im Telefongespräch mit dem „Nordschleswiger“. In den 1990er-Jahren sei die Wahl für den SSW immer auch eine Bekenntniswahl gewesen.  

Wilhelm Knelangen
Politikwissenschaftler Wilhelm Knelangen Foto: Michael Staudt/shz.de

„Zum anderen wird der SSW, obwohl er eine etablierte Partei ist, nicht als etablierte Partei wahrgenommen. Er profitiert als links-liberale Partei von der Unzufriedenheit der Bevölkerung und der Schwäche der anderen Parteien – insbesondere aus dem Links-Mitte-Spektrum. Außerdem muss sich der SSW bundespolitisch nicht rechtfertigen und wird somit als andere Partei wahrgenommen, die man auch wählen kann.“ Eine Partei für Protestwählerinnen und -wähler sei der SSW jedoch nicht. Vielmehr habe sich der Wählerverband als unabhängige Kraft etabliert.

In einer Zeit, in der die Demokratie immer häufiger infrage gestellt wird und der Druck von rechts steigt, ist der Schutz von Minderheiten besonders wichtig. Das verstehen viele Menschen, auch wenn sie sich nicht zu einer Minderheit zugehörig fühlen.

Stefan Seidler, SSW-Bundestagsabgeordneter

Skandinavische Politik?

Christian Dirschauer sieht den SSW vom Wesen her als eine regionale und moderne Minderheitenpartei, „die konkrete Verbesserungen für die Minderheiten und auch für die Mehrheitsbevölkerung in Schleswig-Holstein und insbesondere in der nördlichen Region erreichen will.“

Dies sei – kombiniert damit, dass der SSW sich in seiner Politik auch von den Modellen der skandinavischen, sozialen Wohlfahrtstaaten inspirieren lässt – der Schlüssel zu den großen Wahlerfolgen der Partei, schreibt Dirschauer dem „Nordschleswiger“. Seiner Ansicht nach werde der SSW daher als glaubwürdige, soziale und bürgernahe Alternative wahrgenommen. Bundes- und Landtagswahlen hätten die öffentliche Wahrnehmung massiv gesteigert. Dies zeige nicht zuletzt die jüngste Kommunalwahl in Schleswig-Holstein.

Der SSW habe ein gutes Image, sagt auch Knelangen. Dennoch sei die Präferenz für skandinavische Politik in Deutschland nicht so ausgeprägt und damit nicht unbedingt Hauptwahlgrund. „Würde der SSW jetzt nach skandinavischem Vorbild massive Steuererhöhungen fordern oder eine härtere Asylpolitik, dann würde er vermutlich auf Widerstand stoßen.“ Daher punkte die Partei eher mit Themen wie der Wertschätzung der Arbeit. So sei sie im Landtagswahlkampf die einzige Partei gewesen, die „Das Leben muss bezahlbar bleiben“ auf Wahlplakate gedruckt habe. Der SSW habe auch in der Vergangenheit immer schon Themen bedient, die nicht allein minderheitenpolitisch sind. „Die Minderheit ist nicht im Vordergrund, sondern eingebettet in ein links-liberales Angebot“, so Knelangen.

Der SSW profitiert als links-liberale Partei von der Unzufriedenheit der Bevölkerung und der Schwäche der anderen Parteien – insbesondere aus dem Links-Mitte-Spektrum.

Prof. Dr. Wilhelm Knelangen

Schutz von Minderheiten als Grund für SSW-Stimmen

„In einer Zeit, in der die Demokratie immer häufiger infrage gestellt wird und der Druck von rechts steigt, ist der Schutz von Minderheiten besonders wichtig. Das verstehen viele Menschen, auch wenn sie sich nicht zu einer Minderheit zugehörig fühlen“, glaubt Seidler die Gründe für den Erfolg des SSW auszumachen. 

Vor allem sei der SSW aber auch eine regionale Partei. „Für die Menschen bei uns im Norden ist Regionalität wichtig. Sie wollen regionale Lösungen für politische Probleme, in denen sie sich wiederfinden“, so Seidler.

Auch Knelangen sieht den Schwerpunkt des SSW nach wie vor im hohen Norden. „Die Partei hat von der Einführung des Zwei-Stimmen-Wahlrechts profitiert, obwohl sie zunächst dagegen war. Noch immer entfallen zwei Drittel der Stimmenanteile auf den Schleswigschen Landesteil.“ Die Partei kann dadurch seit dem Jahr 2000 nicht nur in Schleswig, sondern erstmals auch in Holstein gewählt werden.

Die Geschichte des SSW

  • Der SSW geht nach dem Zweiten Weltkrieg auf Druck der britischen Besatzungsmacht aus dem Südschleswigschen Verein SSF hervor. Bis 1948 vertritt der Verein die dänische Minderheit politisch. Die nationalen Friesen in Nordfriesland schließen sich der Vertretung an.
  • Direkt nach dem Krieg stand der Wunsch nach einer erneuten Volksabstimmung in Südschleswig für eine Angliederung an Dänemark im Raum. Sowohl Dänemark als auch die britischen Besatzer lehnten jeglichen Separatismus ab. So mussten die Forderungen nach einer Grenzverschiebung aus dem SSW-Programm gestrichen werden.
  • In den ersten Nachkriegsjahren feiert der SSW große Wahlerfolge und ist außerdem im ersten Bundestag mit dem früheren Schleswiger Bürgermeister Hermann Clausen vertreten.
  • Zu Beginn der 1950er-Jahre verliert der SSW zunächst an Bedeutung. Bei der Landtagswahl 1950 verliert die Partei massiv.
  • Trotz Einführung der 5-Prozent-Hürde im selben Jahr schafft der SSW mit knapp 5,5 Prozent den Sprung in den Landtag. 
  • Mit 3,5 Prozent scheitert die Partei bei der Wahl 1953 und fällt aus dem Landtag.
  • 1955 mit den Bonn-Kopenhagener Erklärungen fällt die Sperrklausel für den SSW. 1958 ziehen Samuel Münchow und Berthold Bahnsen mit einem Stimmenanteil von 2,8 Prozent wieder in den Kieler Landtag ein.
  • Ab 1971 sitzt Karl Otto Meyer (1928-2016) als einziger SSW-Abgeordneter im Landtag und gibt der Partei ein Gesicht.
  • 1983 gelingt es nur knapp, das Mandat zu behalten.
  • Unter Meyer rückt der SSW eher nach links. Sein Vorbild ist das sozialstaatliche Prinzip der skandinavischen Nachbarländer, so wie es noch heute propagiert wird. 
  • Trendwende 1987: Für die dänische Minderheit wird Meyer nicht zuletzt während der Barschel-Affäre im selben Jahr zum „unbestechlichen“ Helden. Bei der Landtagswahl weigert sich Meyer in einer Pattsituation, dem CDU-Kandidaten seine Stimme zu geben. Es gibt Neuwahlen.
  • 1996 erreicht die Partei wieder zwei Mandate. Peter Gerckens und Anke Spoorendonk ziehen in den Landtag ein.
  • 2000 erreicht der SSW bei der Landtagswahl 4,1 Prozent und holt deutlich mehr Stimmen als bei den Wahlen zuvor. Grund dafür ist auch das neue Zweistimmen-Wahlrecht. Die Partei kann dadurch nicht nur in Schleswig, sondern erstmals auch in Holstein gewählt werden. Spoorendonk, Silke Hinrichsen und Lars Harms vertreten die Partei in Kiel.
  • 2005 sind nur noch Lars Harms und Spoorendonk vertreten. Es gibt Kritik, weil der SSW als Minderheitenpartei eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Heide Simonis unterstützen will. Weil in vier Abstimmungen der designierten Ministerpräsidentin jedoch eine Stimme verweigert wird, wird die Duldung obsolet. Eine Koalition von SPD und CDU ist die Folge.
  • 2009 kann der SSW mit vier gewählten Abgeordneten erstmals seit 1950 wieder Fraktionsstärke feiern.
  • Mit Anke Spoorendonk als Spitzenkandidatin geht es in den Wahlkampf 2012. Nach der Wahl lösen SPD, Grüne und der SSW die schwarz-gelbe Koalition ab und bilden die „Küstenkoalition“. Spoorendonk wird in der „Dänen-Ampel“ Justizministerin. 
  • Der Höhenflug des SSW stoppt vorerst 2017, als die Partei nur noch 3,3 Prozent der Stimmen holt.
  • 2020 entscheidet sich die Partei auf einem Landesparteitag wieder zur Teilnahme an einer Bundestagswahl. Das erste Mal seit 1961.
  • Am 26. September 2021 schafft Stefan Seidler als fraktionsloser Abgeordneter den Einzug in den Bundestag.
  • Bei der Landtagswahl am 8. Mai 2022 tritt der SSW erneut mit Lars Harms als Spitzenkandidat an. Die Minderheiten-Partei erreicht 5,7 Prozent der Stimmen. Neben Harms, Jette Waldinger-Thiering und Christian Dirschauer, der seit 2021 neuer Parteivorsitzender ist, gelingt auch Sybilla Nitsch aus Husum der Sprung ins Parlament.
  • Bei den Kommunalwahlen 2023 erreicht der SSW ein historisch starkes Ergebnis und kann seinen Stimmenanteil im Vergleich zur Wahl 2018 fast verdoppeln. In Flensburg wird die Partei mit 24,8 Prozent stärkste Kraft und stellt seitdem mit Susanne Schäfer-Quäck die Stadtpräsidentin.
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Leserbrief

Nils Sjøberg
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