Die Woche am Alsensund
Was lernen wir aus der Geschichte?
Was lernen wir aus der Geschichte?
Was lernen wir aus der Geschichte?
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In dieser Woche am Alsensund hat Sara Eskildsen die neue Ausstellung über die Kriegsjahre 1914 bis 1918 besucht, die im Sonderburger Schloss eröffnet hat. Der Erste Weltkrieg in Nordschleswig ist längst zu Ende, hat aber immer noch einiges zu sagen, findet die Kolumnistin.
In dieser Woche am Alsensund startete der Königliche Küchengarten am Gravensteiner Schloss in seine vierte Saison. Sitzt man an einem der runden Brunnen und lässt sich die von Rosmarin und Apfelblüten geschwängerte Luft um die Nüstern wehen, gleicht der Garten einem Märchenschauplatz. Wie gemacht für die dänische Königin und Grimmschen Froschkönig.
In der modernisierten Ausgabe des Märchens würde der schönen Königstochter wohl keine goldene Kugel, sondern ein iPhone in den Brunnen fallen. Den aufdringlichen kalten Frosch, der die Prinzessin dazu nötigt, ihn mit in die seidene Bettwäsche zu nehmen, würde man heute viral an die Wand klatschen.
Der Prinz würde als übergriffiger Sexist rausfliegen
Die Aussage „es war wie im Märchen“ lässt generell viel Raum für Deutung. Im besten Fall heiratet ein Dienstmädchen am Ende den freundlichen Prinzen. Es könnte aber auch sein, dass eine Person heimtückisch vergiftet oder eine Seniorin vom Wolf gefressen wird.
Was die Rolle der Frauen angeht, müssten sich H. C. Andersen und die Gebrüder Grimm so einiges an Vorwürfen gefallen lassen. Würde Dornröschen 2023 im Schlaf wachgeküsst – der Prinz würde als übergriffiger Sexist hochkant rausgeschmissen.
Dass auch im Krieg Märchen erzählt werden, erlebte ich beim Gang durch die neue Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Sonderburger Schloss. Märchen von Heldentum und Ehre, von einem schnellen Ende und Krieg als einzig möglicher Weg.
Stell die vor, es ist Krieg, und du musst für ein Land kämpfen, dem du gefühlt noch nicht mal angehörst – so erging es Abertausenden von Männern in Nordschleswig zwischen 1914 und 1918.
Sara Eskildsen, Kolumnistin
Der Landesteil Nordschleswig gehörte seit dem Krieg von 1864 zu Deutschland, und so mussten 1914 auch aus Sonderburg, Tondern (Tønder), Hadersleben (Haderslev) oder Apenrade (Aabenraa) Männer in den Krieg ziehen. Auch wenn sie zu dänischen Familien gehörten und mit Deutschland und dem deutschen Krieg im Grunde nichts zu tun hatten – und nichts zu tun haben wollten.
Befehle in einer fremden Sprache
Stell dir vor, es ist Krieg, und du musst für ein Land kämpfen, dem du gefühlt noch nicht mal angehörst – so erging es Abertausenden von Männern in Nordschleswig zwischen 1914 und 1918. Sie mussten Befehlen in einer fremden Sprache gehorchen und starben für ein Vaterland, das nicht ihres war.
Mit der Gleichberechtigung war es damals noch nicht weit her, und so waren es ausschließlich Männer, die aus ihrem zivilen Leben herausgerissen wurden und sich in den Schützengräben gegenseitig abschlachten mussten.
Das Museum zeigt Einberufungsbescheide, Postkarten aus dem Feldlazarett und das Grauen des Krieges in einer intensiven, dunklen Ausstellung. Steht man vor dem meterhohen Panzer im nachgebauten Schützengraben und vor den Gasmasken, kann man erahnen, wie mächtig, unbarmherzig und grausam Krieg war. Und ist.
Wer im Herbst 1914 auf eine Heimkehr vor Weihnachten hoffte, wurde eines Besseren belehrt und saß – falls am Leben geblieben – noch drei weitere „Oh du Fröhliche“s zwischen Ratten und Stacheldraht in den Schützengräben fest.
35.000 Soldaten zogen aus Nordschleswig in den Ersten Weltkrieg. 6.000 starben, 4.000 kehrten als Invaliden zurück.
Die Luft duftet nach Blüten, nicht nach Bomben
Man möchte den Kopf schütteln und die Wirklichkeit ausblenden beim Gedanken daran, dass auch heute Einberufungsbescheide versandt und Menschen aus ihrem Alltag herausgerissen werden. Weil Irrsinn und Machtansprüche Einzelner ganze Nationen in Sippenhaft nehmen und auf Generationen zerstören.
Während um uns herum der Raps im Wind wiegt, wiegen wir uns in Sicherheit. Die Luft duftet nach Blüten, nicht nach Bomben. Krieg ist für die meisten von uns etwas, das wir im Museum betrachten. Ein Relikt aus alten Zeiten, als man es nicht besser wusste.
Bis man die Nachrichten konsumiert und begreift, dass Krieg und Feindbilder auf der ganzen Welt nach wie vor Realität sind. Und dass unsere Wirklichkeit ohne Krieg ein Märchen ist, in dem viele Menschen gerne leben würden.
Die neue Ausstellung im Sonderburger Schloss zeigt in verschiedenen Abschnitten, wie im Laufe der Jahre an den Kriegstechniken gefeilt wurde. Mann gegen Mann war letzten Endes nicht effektiv genug, Giftgas und Massenvernichtungswaffen mussten her.
Dass Menschen und Ministerien 1914 wie 2023 mit großem Eifer an einer möglichst effizienten und intelligenten Tötung von „Feinden“ arbeiten, ist leider kein Märchen. 1915 gruben sich die Soldaten noch durch unterirdische Tunnel hin zum Feindeslager, um Handgranaten persönlich abzuliefern. Heute bringen Drohnen und Missiles den Tod aus der Luft.
Feldpostkarten voller Hoffnung
Ich kann den Besuch der Ausstellung „Nordschleswiger und der große Krieg“ im Schloss Sonderburg sehr empfehlen. An einer Stelle steht man unter einem Himmel aus echten Postkarten, die von Soldaten aus dem Krieg nach Hause geschickt wurden.
Die Hoffnungen und Wünsche darauf sind mit den Soldaten gestorben. Im Gegensatz zu den meisten Märchen gab es für Millionen menschlicher Schicksale zwischen 1914 und 1918 kein Happy End.
Was lernen wir aus der Geschichte? Der Philosoph Hegel stellte einmal fest, dass „was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben“.
Mit Blick auf das deutsch-dänische Grenzland muss man Hegel wohl widersprechen. Hier leben Deutsche und Dänen nicht länger im Krieg, sondern in Gemeinschaft miteinander.
Wie schön man lebt, wenn man sich nicht tötet
Drei Kriege später explodiert in Nordschleswig nur noch die Natur. Die Menschen hier im Grenzland haben herausgefunden, wie schön das Leben sein kann, wenn man sich nicht gegenseitig tötet.
Wer am Alsensund in der neuen Ausstellung steht und in die grausame Sinnlosigkeit des Krieges blickt, sehnt sich nach dem Kern eines jeden Märchens: dass am Ende alles gut wird, auch wenn das Leben mitunter grausam sein kann.