Die Woche am Alsensund
Ein Klassentreffen und die Frage nach den Unbekannten
Ein Klassentreffen und die Frage nach den Unbekannten
Ein Klassentreffen und die Frage nach den Unbekannten
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In der Redaktion am Alsensund ist der Alltag zurück. Kolumnistin Sara Eskildsen stellt angesichts einer Einladung zum Klassentreffen fest, dass es Variablen und Unbekannte nicht nur im Matheunterricht gibt.
Weißt du noch, vor 23 Jahren? Diese Frage ereilte mich vor einigen Wochen in Form einer Einladung zum Klassentreffen nach Schwäbisch Hall. In der flugs eingerichteten Whatsapp-Gruppe scrollte ich mich zunächst einmal durch sämtliche Profilbilder der 76 Personen.
Fränzy, Matthias, Fabian, Michael, Amelie – alte Namen aus der Zeit am Gymnasium tauchten in der Gruppenliste und gleichzeitig in meinen Erinnerungen auf. Namen und Gesichter, die sich offenbar völlig unbemerkt über zwei Jahrzehnte lang in meinem Gehirn aufgehalten hatten.
Im Handumdrehen erstellte Gruppen-Administratorin Fränzy lustige Umfragen. „Von 1 bis 10: Ist euer Leben bislang so verlaufen, wie ihr es euch vorgestellt habt?“ Hier gab es eine glatte 0 von meiner Seite.
Dass ich einmal nach Dänemark auswandern sollte und ausgerechnet eine Scheidung der Auftakt für die beste Zeit meines Lebens werden würde, hätte ich auf der Abi-Feier sicher nicht gedacht. Wobei ich damals generell nicht viel gedacht habe, wenn ich mal ehrlich bin.
„Wer ist wo gelandet“
Auch bei der Frage nach der Anzahl Kinder vergab ich eine Null, bis heute warte ich vergebens auf die WhatsApp-Umfrage zur Anzahl eigener Pferde. Bei „Wer ist wo gelandet“ konnte ich meinen Haken immerhin bei „Ausland“ setzen. Eine Runde Mitleid an alle, die noch in Baden-Württemberg leben.
Dass es in Süddänemark eine deutsche Minderheit gibt, war im Geschichtsunterricht in Süddeutschland damals kein Thema. Ich hatte keine Ahnung, was es mit dem deutsch-dänischen Grenzland auf sich hat, und warum sich im süddänischen Sonderburg eine deutsche Lokalredaktion des „Nordschleswigers“ befindet, in der ich seit Jahren arbeite. Dänemark kannte ich im Jahr 2000 lediglich von einem Reiturlaub auf der Insel Röm.
Erst im Studium in Flensburg lernte ich Dänisch und Dänemark näher kennen – und bekam über meinen dänischen Freund mit, dass es in Süddänemark eine deutsche Minderheit gibt.
Mittlerweile kann ich die Geschichte des Grenzlandes im Schlaf aufsagen und glänze gefragt und ungefragt mit Kurzreferaten über die Zeit zwischen 1864 und 1920, wenn ich auf Menschen treffe, die noch nie von der deutschen Minderheit gehört haben. Erzähle vom Leben in einem Land, in dem ich im Arbeitsalltag zwischen Deutsch und Dänisch hin und her switche und während meiner Freizeit hauptsächlich Dänisch spreche.
Wie neulich, als ich mich auf dem Erntefest auf Mjels Mark mit einem alten Landwirt unterhielt, der sein ganzes Leben dort gelebt hat, wo ich erst seit wenigen Jahren zu Hause bin.
Seine Erinnerungen reichen dementsprechend länger zurück als meine. Und so erzählte er mir vom Frühling 1945, als in der Bucht von Düwig zwei große Schiffe mit Flüchtlingen aus Ostpreußen ankerten. Ein Feld von seiner Haustür entfernt.
Eine Bucht mit vielen Erinnerungen
„Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen“, sagte der alte Bauer. „Nach einem Tag kamen zwei Besatzungsmitglieder und baten um Lebensmittel. Auf den Schiffen waren Hunderte von Frauen und Kinder aus Königsberg, und die hatten nichts zu essen!“
Mein Blick auf die Bucht von Düwig hat sich seitdem verändert. Jedes Mal, wenn ich am Haus des Bauers vorbeireite oder jogge und auf das Wasser der Bucht blicke, frage ich mich, wie die Reise für all die Menschen auf den beiden Schiffen wohl weitergegangen ist.
Ob meine Oma wohl einige dieser Menschen aus Ostpreußen gekannt hat, von wo aus sie selbst im Januar 1945 ihre Heimat Richtung Westen verließ, um in Norddeutschland ein neues Leben zu beginnen, in dem meine Mutter aufwachsen sollte.
All die Flüchtlinge damals und heute, die auf Fränzys Umfrageskala die 0 angeben würden, weil Kriege ihr Leben geprägt und umgeworfen haben. Und dann werde ich mir mit Blick auf die Düwiger Bucht und den Alsensund bewusst, in welch einer behüteten Welt ich aufgewachsen bin – und lebe. Mit Abi-Ball und Frieden im Land und einem Pferd, auf dem ich nur zum Spaß reite und nicht, weil ich ein Transportmittel zur Flucht brauche.
Doch auch im deutsch-dänischen Grenzland, das habe ich in dieser Woche am Alsensund beim Besuch des Kulturausschusses des dänischen Parlaments gelernt, brauchte es laut Museumsleiter Hauke Grella sieben Kriege und 150 Jahre, bis deutsche und dänische Bevölkerung in Frieden und versöhnt miteinander leben konnten.
Nach über 20 Jahren als mehr oder weniger erwachsener Mensch kann ich jedenfalls feststellen: Lebenswege lassen sich nicht planen. Es gibt viel zu viele Variablen und Unbekannte, von denen wir vorab nichts wissen. Nichts wissen können. Auf die man mehr oder weniger spontan reagieren und sich einstellen muss.
Ich hoffe und denke, dass uns allen die Flucht auf Kriegsschiffen erspart bleiben wird. Dass unsere unberechenbaren Variablen und Unbekannten eher im persönlichen Leben und weniger im gesellschaftspolitischen Umfeld auftauchen. Aber wer weiß das schon.
Die Vergangenheit prägt und formt, schiebt und schafft Voraussetzungen. Was wir daraus machen, bleibt dann aber uns überlassen.
Sara Eskildsen, Kolumnistin
Ich bin gespannt auf all die Menschen und Lebensläufe hinter den Profilbildern in der Klassentreffen-Gruppe. Werde am kommenden Sonnabend statt in der Düwiger Bucht in Neugierde baden und fröhlich drauflos fragen, wie es meinen Mitschülerinnen und Mitschülern im Leben so ergangen ist.
Welche Variablen und Unbekannte unsere Lebenswege in den nächsten Jahren kreuzen werden, kann niemand wissen. Weder am Alsensund noch in Schwäbisch Hall am Fluss namens Kocher.
Niemand serviert uns ein Leben auf dem Silbertablett
Das Leben, das wir uns wünschen, serviert uns niemand auf dem Silbertablett. Aber wir können es uns erschaffen, solange es uns all die Unbekannten und Variablen erlauben.
Es ist ein wenig wie die Tonablagerungen aus der Eiszeit, die entlang des Nübeler Noors am Rande der Flensburger Förde Ziegeleien haben aufblühen lassen: Die Vergangenheit prägt und formt, schiebt und schafft Voraussetzungen. Was wir daraus machen, bleibt dann aber uns überlassen.