Kulturkommentar

„Von Monsterrädern und der Angst vor Privilegienverlusten“

Von Monsterrädern und der Angst vor Privilegienverlusten

Von Monsterrädern und der Angst vor Privilegienverlusten

Apenrade/Aabenraa
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Der normale Radfahrende wird, nur weil er Rad fährt, zum Öko(-Terroristen). Warum uns verhärtete Fronten in aktuellen Debatten nicht weiterbringen, erklärt Journalist Gerrit Hencke in seinem Kulturkommentar anhand eines Beispiels.

Blickt man über die Grenze nach Deutschland, so scheint es, als ob es kaum noch eine Debattenkultur gibt. Es gibt häufig nur noch zwei Ufer, an denen sich Meinungen bilden. Schwarz oder Weiß. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Wer dazwischen schwimmt, der ist verloren.

Ein Beispiel ist die Verkehrs- oder Mobilitätswende. Ein Begriff, den es in Dänemark so richtig gar nicht gibt. Die „Grüne Umstellung“ (grøn omstilling) ist hierzulande der Begriff, unter dem alle Bemühungen für eine Transformation zur Klimaneutralität zusammengefasst werden. Darunter fällt auch die Dekarbonisierung des Verkehrs. 

Aufgeladene Debatte in Deutschland

Die Diskussion um die Verkehrs- oder Mobilitätswende ist hier auch gar nicht so aufgeladen wie in Deutschland, wo sich in den Diskurs immer häufiger populistische, polarisierende und verallgemeinernde Aussagen gemischt mit latenter Aggressivität und teils Beleidigungen gesellen. Die Folge: verhärtete Fronten. Ein Beispiel.

Ein ehemaliger Kollege war es kürzlich, der über eine Studie zum Potenzial des Radverkehrs in Deutschland herzog. Dreimal so viel sei bei unserem südlichen Nachbarn möglich; 19 Millionen Tonnen CO₂ könnten zusätzlich eingespart werden, so das Fazit auf dem Papier. 

Die Angst vor dem Lastenrad

Lastenräder, gesteuert von „sich selbst überschätzenden Ökos“, seien eine echte Gefahr auf den Straßen, schrieb er. Und die Regeln würde sowieso nur die Minderheit der Radfahrenden kennen. Deren Verhalten sei in den überwiegenden Fällen rücksichtslos. Es ist eine pauschalisierende Aussage, wie sie in Deutschland täglich in tausenden Debatten zu allen möglichen Themen zu lesen ist – vom Veganismus über die E-Mobilität hin zum Tempolimit auf Autobahnen. 

Ich, als mich selbst überschätzender, radelnder Öko (offenbar), kann diese Verallgemeinerung aber nicht auf mir sitzen lassen – auch wenn ich weiß, dass diese Art der Diskussion zu nichts führt und es am Ende verschwendete Lebenszeit ist. Aber: Sie kritisiert meine freie Entscheidung, welches Verkehrsmittel ich nutzen möchte, und sie kritisiert mich als Menschen auf mehreren Ebenen. 

Im Übrigen hat das Wort „Öko“ hier keine positive Konnotation. Nicht zuletzt, weil in Deutschland bei Klimathemen mittlerweile häufig der Begriff „Öko-Diktatur“ oder „Öko-Terroristen“ im Zusammenhang mit Umwelt- und Klimabewegungen und den Grünen fällt. Seit den 2020er-Jahren kommt es zu einer zunehmenden Anfeindung seitens populistischer und rechtsradikaler Akteurinnen und Akteure gegen diese Gruppen. Die logische Konsequenz: Wer Lastenrad fährt, der kann nur ein „Grüner“ sein. 

Die tödlichste Waffe ist der Pkw

Dabei könnte ich genau so argumentieren wie er. Diese sich selbst überschätzenden „Dosentrottel“ (so nennen Rad-Ökos in Deutschland Autofahrende manchmal abfällig) sind eine echte Gefahr auf den Straßen. Mit dem Unterschied, dass sie nicht 15 (beim Lastenrad 45 kg), sondern im Schnitt 1.500 Kilogramm Gewicht bewegen. Sicher ist, dass ein Auto eher das Zeug hat, zur tödlichen Waffe im Straßenverkehr zu werden, als ein Fahrrad. 

Trotzdem spricht der Ex-Kollege von „Monsterrädern“, die sich an der Ampel „am teuer bezahlten Auto“ vorbei nach vorn drängeln. Dass auf den Straßen heute immer mehr „Monsterautos“ unterwegs sind, wird dabei vollkommen ausgeblendet. Hinter immerhin 30 Prozent aller Neuzulassungen in Deutschland steckte 2023 ein SUV. Diese Entwicklung ist in meinen Augen eine viel größere Gefahr für schwächere Verkehrsteilnehmende. Für Kinder. Für Fußgänger. Für Radfahrer. Ja, für Menschen.

Rücksichtslosigkeit ist unabhängig vom Verkehrsmittel

Täglich erlebe ich mehrfach, wie so ein „Monsterauto“ sich trotz Gegenverkehr dicht an mir vorbeidrängelt, mir beim Abbiegen die Vorfahrt nimmt oder geltende Verkehrsregeln – Tempolimit, Sperrflächen, Ampeln, Parkverbote – nur optional zu sein scheinen. In diesen Situationen ist es plötzlich kein Problem, wenn das teuer bezahlte Auto meinem Rad zu nahe kommt. Es ist dieselbe Rücksichtslosigkeit, die mir als „Öko“-Radler verallgemeinernd vorgeworfen wird.

Aber: Ich verallgemeinere das nicht. Denn es gibt eben auch genug, die beim Überholen den Bogen tatsächlich schaffen oder sich beim Abbiegen doch an ihre Fahrschulzeit erinnern. 

Egal, ob aus Sicht vom Lenkrad, hinter dem Lenker oder als Fußgänger: Die negativen Erlebnisse bleiben uns natürlich länger in der Erinnerung. Man muss akzeptieren, dass es eben Menschen gibt, denen Regeln nicht so wichtig sind oder die sie schlicht nicht kennen. Das ist aber unabhängig vom gewählten Verkehrsmittel so. Und klar gehören auch Radfahrende dazu. Mich nerven sie ja selbst. Die ohne Licht. Die, die über die rote Ampel kacheln. Die, die auf dem Gehweg radeln. Das ist rücksichtslos. Aber: Es sind eben nicht alle so.

Schmerzhafter Privilegienverlust

Mit der Entwicklung – dickere, schwerere Autos, mehr Radverkehr – nehmen die Platzprobleme in den Städten weiter zu, ohne dass der Ausbau der Infrastruktur hinterherkommt. Das sorgt für mehr Konfliktpotenzial. In Zeiten, in denen sich der Verkehrsraum unweigerlich an die Bedürfnisse aller und das Klima anpassen muss, müssen auch die Privilegien des Autoverkehrs zur Debatte stehen. Zurecht. Das sage ich als jemand, der ein Auto besitzt und es auch fährt. Städte müssen lebenswerter werden. Und da gehört eben weniger motorisierter Verkehr und mehr Platz für Rad- und Fußverkehr dazu – und die entsprechende Infrastruktur, damit die „Monsterräder“, die sich viele als Autoersatz anschaffen, dort gut fahren können. Diese Infrastruktur muss so sicher sein, dass mehr Leute bewusst auf das Auto verzichten. Jeder neue Radfahrende, Zufußgehende oder ÖPNV-Nutzende bedeutet ein Auto weniger auf der Straße. Die verbleibenden Pkw-Fahrenden bekommen in der Folge mehr Platz. Das nennt man Win-win-Situation. In Vorreiterstädten der Verkehrswende ist das seit Jahrzehnten gelebte Praxis.

Im ländlichen Raum, wie auch in Nordschleswig, ist diese Umverteilung des Verkehrsraums natürlich noch eine Utopie. Hier wird sich in Zukunft wohl nur wenig verändern. Dass das Auto hier vorherrscht, ist aus vielen Gründen nachvollziehbar. Es fehlen schlicht attraktive Alternativen – angefangen bei Radwegen und ÖPNV.

Aggressivität gegen bestimmte Gruppen 

Dennoch sorgt die Entwicklung vor allem in Deutschland für großen Unmut. Denn Verkehrswende bedeutet eine Veränderung der eigenen Gewohnheiten. Aus Windschutzscheiben-Sicht ist in den Debatten daher nie der Pkw das Problem, sondern etwa der Ausbau von Radwegen, Tempo 30 in Innenstädten oder zu wenige Parkplätze im öffentlichen Raum. Der „sich selbst überschätzende Lastenrad-Öko“ wird dabei zum Feindbild.

Denn angesichts der Entwicklung sehen sich einige offenbar dermaßen durch alternative Verkehrsmittel in ihrer vermeintlichen Freiheit eingeschränkt, dass die gefühlte Aggressivität gegen bestimmte Gruppen zunimmt. Das merkt man im Netz und auf der Straße. Der normale Radfahrende wird dann, nur weil er Rad fährt, zum Öko(-Terroristen). Na, herzlichen Dank. Bei derartigen Argumentationen möchte man zwischen beiden Ufern nur noch untertauchen. Da braucht es einen langen Atem.

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