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„Politiken“-Kommentator Michael Jarlner: Deutsche Angst vor dem eigenen Schatten

„Politiken“-Kommentator Jarlner: Deutsche Angst vor dem eigenen Schatten

Michael Jarlner: Deutsche Angst vor dem eigenen Schatten

DN
Kopenhagen
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Michael Jarlner und Siegfried Matlok beim Interview im „Politikens Hus“ auf dem Kopenhagener Rathausplatz Foto: DK4

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Seine Mutter war dänische Widerstandskämpferin, aber der internationale Kommentator von „Politiken“, Michael Jarlner, bezeichnet sich selbst als „etwas germanophil“. Seine Sympathien für Deutschland ändern im Interview mit „DK4“ aber nichts an seiner harten Kritik: kollektives Versagen, Dornröschenschlaf.

Der bekannte internationale Kommentator der Kopenhagener Tageszeitung „Politiken“, Redakteur Michael Jarlner, – nach eigenen Worten selbst „etwas germanophil“– hat Kritik an der mangelhaften deutschen Ukraine-Politik geübt. In der Fernsehsendung „Dansk-tysk med Matlok“ auf „DK4“ lautet sein hartes Urteil über die deutsche Ukraine-Politik: „Falliterklæring“ – eigentlich ein Armutszeugnis!

Nach seiner Ansicht war die berühmte Zeitenwende von Bundeskanzler Scholz zwar der Versuch, sich von einem Teil der Abhängigkeit und Fehler aus der Merkel-Zeit gegenüber Russland zu lösen, „aber sie kam viel zu spät“. „Wenn man sich die deutsche Verteidigungsbereitschaft ansieht, dann ist sie ja gar nicht auf eine Situation eingestellt, in der sich die USA als die bisher immer zuverlässigen Verteidiger aus Europa zurückziehen werden.“

Warnung vor Trump aus dem 51. US-Bundesstaat

Obwohl das Fernseh-Interview vor dem Ergebnis der US-Wahlen in Kopenhagen aufgenommen wurde – Jarlner bezeichnet dabei Dänemark süffisant „als 51. US-Bundesstaat“ – sagte der „Politiken“-Redakteur voraus, dass Deutschland durch einen Präsidenten Trump „hart getroffen wird“. Und dies in einer Zeit, in der deutsche Führung für den nun noch wichtigeren Zusammenhalt in Europa dringend notwendig sei. 

Große Unterschiede zwischen Deutschland und Dänemark 

Jarlner verwies auf die zurzeit großen Unterschiede in der dänischen und deutschen Sicherheitspolitik: „Dänemark, die baltischen Länder und Polen betrachten Russland als sicherheitsmäßige Gefahr und sehen den Frontverlauf zwischen unserem System und dem autoritären System Putins in der Ukraine. Diesen Kampf haben wir in Dänemark angenommen.“ Deutschland sei – auch vor dem historischen Hintergrund – gespalten, siehe SPD, sagt Jarlner und betont: „Die Ambitionen der Scholz-SPD sind andere als jene, die Dänemark verfolgt. Unser Ziel ist es, die Russen ein für alle Mal aus der Ukraine rauszuschmeißen. In der SPD will man verhindern, dass die Ukraine brennt und retten, was zu retten ist. Das sind zwei ganz unterschiedliche Ambitionsniveaus. Dänemark geht voran, etwa mit der Lieferung von F-16-Maschinen, aber da vermisse ich eine größere deutsche Führungsrolle als bisher. Deutschland ist zu passiv – und Frankreich trotz Pathos sogar noch mehr.“ 

Von Siegfried Matlok gefragt, ob es nicht unfair sei, Deutschland und Scholz zu kritisieren, wenn der Kanzler alles tun will, um einen 3. Weltkrieg zu verhindern, antwortet Jarlner:

„Nichts gegen Verantwortungsbewusstsein, aber das Bild Deutschlands ist doch ein anderes: immer hinterher hängend – erst bei den Helmen und nun bei den weitreichenden Raketen. Dies hat bei Putin den Eindruck hinterlassen, er verfüge über einen größeren Spielraum gegenüber dem Partner Deutschland, der noch immer Angst hat vor dem eigenen Schatten.“ 

Sprang bei Stegner aus dem Stuhl

Jarlner schildert, wie er kürzlich in Kopenhagen bei einem Interview mit dem außenpolitischen Experten der SPD, Ralf Stegner, entsetzt von seinem Stuhl hochsprang, als der SPD-Politiker ihm erklärte, es sei einfach illusorisch zu glauben, dass die Ukraine Russland besiegen könne. Mit Jarlners Worten: Stegner hat einen Rauswurf der Russen aus der Ukraine aufgegeben, obwohl Russland auch selbst die Verträge über die Respektierung von Grenzen in Europa unterschrieben hat, unter anderem in Verbindung mit dem Verzicht der Ukraine auf eigene Atomwaffen. 

Jarlner: „Die Deutschen sagen, dass sie nie wieder einen Krieg starten wollen, aber was macht man, wenn der Krieg nach Deutschland kommt, wie es jetzt doch der Fall ist? Die Deutschen sind unvorbereitet, obwohl sie sich längst darauf hätten vorbereiten können. Spätestens seit der Besetzung der Krim 2014, doch stattdessen hat man den Turbo für russische Gaslieferungen eingeschaltet. Da waren Merkel aber auch andere deutsche Parteien viel zu naiv.“ 

Siegfried Matlok erinnert seinen Gesprächspartner an eine Rede des früheren Staatsministers Lars Løkke Rasmussen beim Volkstrauertag 2016 im Deutschen Bundestag, als Løkke die Hoffnung aussprach, Deutschland möge eine Führungsrolle übernehmen – übrigens just nach der ersten Wahl von Donald Trump.

Deutschland für Dänemark wichtigstes Bindemittel 

Und was nun, Michael Jarlner?

„Deutschland ist unser wichtigstes Bindemittel, aber die Situation hat sich inzwischen ja verändert. Wir sehen, dass Dänemark, der Norden und das Baltikum etwas anderes wollen als notwendigerweise die Südeuropäer, und deshalb benötigen wir Deutschland als Makler und wünschen uns, dass Deutschland eine Führungsrolle übernimmt. Das ist aber natürlich schwierig in einer Zeit, da sich das Land mit sich selbst im Streit befindet, doch es ist notwendig in einer neuen Weltordnung, denn Donald Trump ist kein vorübergehendes Phänomen.“ Und Jarlner fügte hinzu: „Wenn die Wahl von Trump irgendetwas Gutes bringen sollte, dann hoffentlich die Erkenntnis, dass Europa nach den zahlreichen Trump-Schocks endlich aufwacht.“ 

Im Verhältnis zur technologischen Entwicklung Amerikas habe Europa nach seinen Worten „in einer Blase gelebt, und Europa müsse nun dringend aus seinem Dornröschenschlaf erwachen“. Europa habe leider nicht bemerkt, dass sich die Welt schneller gedreht hat, als man es sich vorgestellt hatte – und auch in eine andere Richtung. 

Gefährliche Krise auch durch kollektives Versagen 

Jarlner ist besorgt über die gegenwärtige wirtschaftliche Krise in Deutschland angesichts der Spaltung im Lande, auch zwischen Ost- und Westdeutschland, die nach seinen Worten „enorm gefährlich ist für die Demokratie“. Angela Merkel war als Bundeskanzlerin „nicht tüchtig genug“, die grüne und technologische Entwicklung im Lande voranzutreiben. 

„Ihr fehlte ein durchdachtes Konzept, aber sie hat ja keine guten Ideen erstickt. Die Krise ist deshalb auch ein Ergebnis einer kollektiven Verantwortung, ja eines kollektiven Versagens“. Jarlner verweist auf die Defizite in der Wirtschaft und auf die der Automobilindustrie, die die Elektromobilität verschlafen hat. „Man hat in Deutschland viel zu lange an die eigene Überlegenheit in wichtigen Industriebereichen geglaubt. Dennoch steckt in Deutschland viel Potenzial – gerade auch im Zukunftssektor der künstlichen Intelligenz, und man darf auch nicht vergessen, dass der Corona-Impfstoff in Deutschland entwickelt wurde. Das Potenzial muss nun abgerufen und kapitalisiert werden, aber das ist wahrlich keine leichte Aufgabe“, so Jarlner in seiner Deutschland-Analyse auf „DK4“. 

Das Interview mit Redakteur Michael Jarlner gibt es in voller Länge hier.

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