Ahnenforschung
Familiäre Spurensuche auf den Jungferninseln
Familiäre Spurensuche auf den Jungferninseln
Familiäre Spurensuche auf den Jungferninseln
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Seit Generationen ist die Familie Haagensen in und um Tondern ansässig. Doch ein Urlaubsfoto hat die Frage aufkommen lassen, ob außer Handwerkern und Gastwirten womöglich auch Plantagenbesitzer und Sklavenhalter in der Ahnentafel zu finden sind. Journalistin Anke Haagensen hat sich auf Spurensuche begeben.
Ein Foto, das Freunde von einer Karibik-Kreuzfahrt mitbrachten, hat mich neugierig gemacht.
Auf St. Thomas, eine der Inseln des einstigen Dänisch-Westindiens, waren sie auf ein Hinweisschild gestoßen. „Haagensen House“ stand dort mit großen Lettern geschrieben.
Das Haus war einst der Wohnsitz des ehemaligen Unternehmers Hans Haagensen. Das fand ich beim einfachen Googeln heraus. Erbaut war das Haus offensichtlich Anfang des 19. Jahrhunderts, ging aus dem Eintrag hervor.
Die ersten Versuche
Wer aber war dieser Hans Haagensen? Ist er womöglich mit mir verwandt?
Lange hat mir allein der Gedanke Spaß bereitet, dass ein Teil von Dänisch-Westindien zu mir oder zumindest meiner Familie gehören könnte. Das war eine Art Party-Gag, den ich immer mal wieder zum Besten gab, wenn von vermögensrechtlichen Ansprüchen aus DDR-Zeiten oder Ähnlichem die Rede war.
Ich suchte im öffentlich zugänglichen Personenregister für Tondern nach dem ersten Haagensen in der Wiedaustadt und stieß auf einen gewissen Peter Wilhelm Haagensen, der 1814 in Kopenhagen geboren wurde, und damals als Tierarzt in Tondern tätig war. Ich scheiterte jedoch kläglich daran, einen entsprechenden Eintrag in den Kopenhagener Online-Archiven zu finden. Wer war er? Wer waren seine Eltern? Wie hießen seine Geschwister?
Ich ließ die Sache deshalb viele Jahre auf sich beruhen.
TV-Doku: Dänemark als Sklavennation
Eine Dokumentarreihe im dänischen Fernsehen über Dänemarks dunkle Vergangenheit als Sklavennation weckte bei mir viele Jahre später erneut das Interesse für die Geschichte der Jungferninseln.
Ich fand im Netz Aufzeichnungen eines gewissen Johan Reimert Haagensen, der bereits 1739 als 18-Jähriger nach St. Croix kam. – In manchen Quellen wird er Reimert mit „t“ und manchmal ohne „t“ geschrieben. – Auf St. Croix war jener Johan Reimert Haagensen als eine Art Beamter und Plantagenbesitzer tätig, geriet aber offensichtlich mit der neuen Verwaltung auf der Insel in Streit und verließ schließlich die Kolonie 1755.
Johan Reimert Haagensen war einer der ersten Dänen, die über Dänisch-Westindien geschrieben haben. So liegt im Reichsarchiv in Kopenhagen ein Buch von ihm mit dem Titel „Beskrivelse over Eylandet, St. Croix, America og Vest-Indien” vor, wo er unter anderem über den Arbeitstag der Sklaven erzählt.
Er beschreibt in diesem Buch auch den Verlauf einer Sklavenauktion:
Aus heutigem Blickwinkel erscheint auch die Tatsache, dass das Auspeitschen von Sklaven zu den gängigen Bestrafungsmaßnahmen gehörte, unglaublich. So schreibt Johan Reimert Haagensen 1758 unter anderem:
Der US-amerikanische Historiker George S. Tyson gilt als Kenner der Geschichte der Jungferninseln. Er schreibt in einem Aufsatz „Tingene sat på plads: Om afrikaneres bidrag til etableringen af byen Christiansted på St. Croix“ Folgendes:
Wer war dieser Haagensen?
Noch ein Haagensen? War Johan Reimert Haagensen verwandt mit jenem Hans Haagensen, der Anfang des 19. Jahrhunderts eine Prachtvilla auf St. Thomas erbauen ließ? Bildet einer von ihnen einen Zweig meines Familienstammbaums – oder vielleicht sogar beide?
Erneut scheiterte ich an meinen Unzulänglichkeiten in der Ahnenforschung. Ich fand trotzdem bei der Online-Recherche im Reichsarchiv einen Tierarzt namens Haagensen, der zwei Söhne hat, die Hans und Peter heißen. Da dies Allerweltsnamen sind, ist das Fundstück jedoch wenig aussagekräftig. Überdies wusste ich zu dem Zeitpunkt weder Geburts- noch Sterbedatum.
Jedes Mal, wenn das Apenrader Reichsarchiv Schnuppertage zum Thema Ahnenforschung anbot, nahm ich mir vor: „Nächstes Mal gehe ich hin.“ – Das ist auch schon wieder Jahre her.
Der entscheidende Anstoß
Kürzlich haben meine Geschwister und ich nach dem Tod unserer Mutter das Familiengrab verkleinert. In diesem Zusammenhang sollten einige Grabsteine entfernt werden. Darunter auch der meiner Urgroßeltern und der Urgroßtanten väterlicherseits.
Mütterlicherseits hat ein Onkel bereits nach Ahnen gesucht. Dieser Familienzweig der Christiansens hat sich primär in und um Tondern herum zu einem äußerst kräftigen Baum entwickelt.
In Tondern, Seth (Sæd) und Uberg (Ubjerg) und umliegenden Ortschaften bin ich gefühlt mit jedem Zweiten verwandt, zumindest, wenn man einige Generationen auf der Ahnentafel zurückgeht. Das ist schon lustig, wenn man feststellt, dass der neue Nachbar gar nicht so fremd ist, weil meine Urgroßmutter und sein Urgroßvater Geschwister waren.
Der Haagensen-Stammbaum ist indes unerforscht.
Die Grabsteine der Verwandten stehen jetzt seit einigen Wochen in meinem Garten. Sie sollten nicht zu Wegkies zerschreddert werden, waren wir Geschwister uns einig.
Hilfe in Solderup
Nun laufe ich regelmäßig an den Grabsteinen in meinem Garten vorbei, kenne sowohl Geburts- als auch Todestag meiner Urgroßeltern. Mit diesen Informationen wandte ich mich an Horst Fries in Solderup. Der gebürtige Sether ist lokalhistorisch sehr interessiert. Insbesondere die Ahnenforschung hat ihn wie ein Virus gepackt.
Es fing bei ihm mit der eigenen Familie an. Inzwischen hat er fast sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner von Seth und Uberg in seinem Computer registriert; so auch die Familie seiner Frau, die aus dem Kirchspiel Tingleff kommt. Es dauert nur wenige Sekunden, bis die ersten Namen meiner Verwandten auf seinem Laptop zum Vorschein kommen. Ich stelle fest: Väterlicher- und mütterlicherseits ist meine Familie im Großraum Tondern zahlreich vertreten.
Horst Fries beginnt bei seiner Onlinesuche aber nicht mit meinen Urgroßeltern, wie ich gedacht hatte, sondern möchte den Stammbaum auf meine Person ausrichten. Das gestaltet sich aber als schwierig, weil Geburten nur bis hin zum Jahr 1960 online zugänglich sind. Ich, Jahrgang 1963, bin zu jung, zumindest in diesem Zusammenhang.
Mit den Daten des Bruders
Wie gut, dass ich mehrere ältere Geschwister habe, denn so weichen wir auf meinen Bruder Günter aus. Er ist Jahrgang 1952, geboren am Muttertag im Mai – ein Sonntagskind also.
Deswegen hat die Hebamme seine Geburt im Personenarchiv erst am Tag danach eingetragen. Da ist das männliche Kind noch ohne Namen. „Der Name der Mutter, auch deren Mädchenname, der Name des Vaters sowie deren Geburtstage und Berufsbezeichnungen sind dort zu finden“, erzählt Horst Fries. Auch Uhrzeit der Geburt, Gewicht und Geburtsadresse hat die Hebamme fein säuberlich aufgeschrieben.
Nach dem Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ durchforstet Fries anschließend das entsprechende Kirchenbuch. Dort findet er erst am 14. Juni 1952 den Eintrag, nach dem er gesucht hat. Taufdatum ist der 22. Juni beim damaligen deutschen Pastor der Tonderner Christkirche.
Die Überraschung
Horst Fries stößt auf eine kleine Überraschung. Im Personenregister heißt Bruderherz Günter ohne „h“; im Kirchenbuch, das ebenfalls online einzusehen ist, ist der Name mit „h“ eingetragen. Nachgefragt hat der Küster wohl nicht, als meine Mutter kurz vor der Taufe im Juni 1952 bei ihm vorstellig wurde.
„Eigentlich ist das, was im Kirchenbuch steht, das, was gilt“, sagt der Ahnenforscher. Dennoch hat sich mein Bruder zeitlebens ohne „h“ geschrieben. So steht es auch in allen offiziellen Papieren – und neuerdings auch im Computer von Horst Fries.
Die Adresse Møllevej 19, Tondern, ist ihm unmittelbar kein Begriff. Da ich aber weiß, dass meine beiden ältesten Geschwister im Vereinsheim des damaligen Turnerbundes Tondern, im Volksmund nur als „Bootshaus“ oder „Turnerheim“ bezeichnet, geboren sind, wo meine Eltern zu der Zeit Hausmeister waren, konnte das Rätsel schnell gelöst werden. Møllevej 19 heißt heute Kongevej 61.
Wichtige Informationsquelle
„In den Kirchenbüchern findet man häufig ganz viele interessante Zusatzinformationen“, erzählt Horst Fries. Besonders ergiebig sind Hochzeitseinträge. Hier sind nicht nur die Namen des Brautpaares, sondern auch die Namen und Anschriften von deren Eltern festgehalten. Wenn der Küster ganz gewissenhaft war, sind sogar deren Geburts- oder Sterbedaten erwähnt. Mit den Informationen hat Horst Fries binnen weniger Minuten den Familienstammbaum fünf Generationen zurückverfolgt.
Mit Ururgroßvater Peter Wilhelm Haagensen geraten seine Kirchenbuchrecherchen in Tondern jedoch ins Stocken. Er ist offensichtlich nicht in der Wiedaustadt geboren.
Das deckt sich wunderbar mit meinen eigenen Recherchen. Ich hatte vor Jahren bei meiner amateurhaften Internetsuche herausgefunden, dass der erste im Tonderner Personenarchiv erwähnte Haagensen Peter Wilhelm hieß und aus Kopenhagen stammte.
Vom Spürsinn gepackt
Jetzt müsste ich eigentlich selbst in den Kopenhagener Archiven weitermachen. Das war der Plan. Doch Horst Fries hat offensichtlich der Ehrgeiz und der detektivische Spürsinn gepackt. Außerdem besitzt er vollen Zugang zu der Genealogie-Plattform „My Heritage“. „Das ist eine recht teure Angelegenheit, die ich unbedingt allen Leuten empfehlen kann, die intensiv Ahnenforschung betreiben wollen. Ansonsten reicht für Otto-Normal-Verbraucher ein kostenloses Schnupper-Abo“, lautet sein Tipp.
Horst Fries hat an jenem Vormittag noch einen Termin und eigentlich keine Zeit, sich um meinen Stammbaum zu kümmern, zumal er seiner Frau versprochen hat, beim Ausmisten in dem großen Bücherbestand des Hauses zu helfen. Dennoch erreicht mich im Laufe des Tages eine E-Mail aus Solderup mit dem Wortlaut: „Ich glaube leider nicht, dass du eine Verbindung zu den Haagensens auf St. Thomas hast.“ Im Anhang befinden sich Geburtsdokumente von Peter Wilhelm Haagensen. Er ist am 28. Dezember 1814 geboren. Sein Vater heißt Svend und nicht Johan Reimert. Seine Mutter heißt Karen Kirstine, geborene Hoijer.
Svend war Marketender
Horst Fries hat noch mehr gefunden. Aus einem Dokument einer Volkszählung im Jahr 1845 geht hervor, dass die Eltern von Peter Wilhelm zu dem Zeitpunkt in der Sølvgade 1 in Kopenhagen wohnen. Er hat mehrere Geschwister. Keiner der Brüder heißt jedoch Hans. Von Beruf ist Vater Svend offensichtlich Marketender. Der Mensch, der die Volkszählung durchgeführt hat, hat eine wunderschöne Handschrift, schrieb aber Sütterlin und musste in den engen Spalten manchmal sehr klein schreiben, weshalb mein ungeübtes Auge nicht alles auf Anhieb lesen kann. Aber „Marketender“ hatte auch ich entziffern könnte, war mir jedoch unsicher, da ich diese Berufsbezeichnung eher mit etwas Anrüchigem verbinde. Doch Horst Fries bestätigt mir: „Das war tatsächlich seine Berufsbezeichnung.“
Ich kannte die weibliche Bezeichnung „Marketenderin“ aus der Literatur (von Grimmelshausens „Simplicissimus“, Brechts „Mutter Courage“) eher in Verbindung mit leichtlebigen Frauen. Holla! War mein Vorfahr womöglich Bordellbetreiber?
Munzinger leistet Hilfestellung
Zu meiner Beruhigung und Familienehrenrettung finde ich im verlässlichen Nachschlagewerk „Munzinger Online“ die Information, dass ein Marketender eine Art Kaufmann ist, der das Militär mit Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs versorgt. (Der „Munzinger“ kann übrigens über die Homepage des Verbandes Deutscher Büchereien Nordschleswig kostenlos genutzt werden.) Und das deckt sich auch wunderbar mit dem Eintrag des Volkszählers, dass Svend Haagensen Marketender des 1. Linien-Infanterie-Bataillons war.
Aus den bereits genannten Gründen ist die Schrift auf dem Volkszählungsdokument teilweise schwer zu entziffern. Lesen kann ich jedoch, dass sie offensichtlich zwei Bedienstete hatten. Urururgroßvater Svend muss also recht betucht gewesen sein. Vier seiner Kinder – Julius, Vilhelm (wahrscheinlich Wilhelm), Nielsine Oline und Julie Betty – leben noch zu Hause. Die Söhne sind beide Kupferschmiedgesellen und haben offensichtlich nicht studiert wie ihr älterer Bruder.
Keine Ansprüche
Aber Ansprüche auf Ländereien oder gar die feudale Villa auf St. Thomas kann ich mit diesem Ergebnis bedauerlicherweise nicht geltend machen. Aber zumindest bin ich, was meinen Stammbaum angeht, der Wurzeln ein spannendes Stückchen näher gekommen.