Interview

UN-Berichterstatter: Europa muss den Minderheitenschutz wieder neu lernen

UN-Berichterstatter: Europa muss den Minderheitenschutz wieder neu lernen

UN-Experte: Europa muss Minderheitenschutz neu lernen

Husum
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Fernand de Varennes
Fernand de Varennes Foto: Cornelius von Tiedemann

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Minderheitenrechte: Europa muss neu erlernen, worin es einst Vorreiter war, sagt Fernand de Varennes. Doch wie kann das gelingen? Bis August war der Kanadier Sonderberichterstatter für die Rechte von Minderheiten bei den Vereinten Nationen. Nun fasst er seine Beobachtungen im Interview zusammen.

Nationale Minderheiten haben auf nationaler und europäischer Ebene weniger politische Unterstützung, als dies noch um die Jahrtausendwende der Fall war. Zu diesem Schluss kommen die Teilnehmenden beim Kongress der Minderheiten-Dachorganisation FUEN in Husum dieser Tage fast übereinstimmend.

Einer, der diese Entwicklung mit globalem wissenschaftlichem Blick verfolgt hat, ist der kanadische Jurist und Hochschullehrer Fernand de Varennes, der bis August Sonderbeauftragter der UN für Minderheitenrechte war.

In Husum nahm er sich am Rande des FUEN-Kongresses Zeit für ein Interview. Mit dem „Nordschleswiger“ sprach er darüber, was er und 39 andere Expertinnen und Experten, die im Frühjahr zu einem runden Tisch in Brüssel zusammengekommen waren, den Minderheiten Europas raten, damit der Trend sich umkehrt.

Fernand de Varennes, worum ging es bei der Konferenz in Brüssel im Frühjahr? 

„Die Hauptanliegen waren, wie Minderheiten behandelt und geschützt werden, und die Notwendigkeit, Fortschritte in diesem Bereich zu machen. Der Schwerpunkt lag eher darauf, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Behandlung von Minderheiten und die Achtung ihrer Rechte in der EU und dem Europarat zu verbessern.“

Fernand de Varennes

Fernand de Varennes

  • Fernand de Varennes, Jahrgang 1958, ist ein kanadischer Rechtswissenschaftler.
  • Er war Professor an der University of Pretoria, Südafrika, Dekan der juristischen Fakultät der Université de Moncton und von 2017 bis 2024 UN-Sonderberichterstatter zu den Rechten von Minderheiten.
  • Seine Schwerpunkte sind Minderheitenrechte, Prävention ethnischer Konflikte und Föderalismus und Verfassungsautonomie.

Auf dem FUEN-Kongress hier in Husum haben Sie gesagt, dass es in den vergangenen 20 Jahren diesbezüglich keinen Fortschritt gab.

„Nun, das war vielleicht ein wenig übertrieben, um den Punkt zu verdeutlichen. Doch in vielerlei Hinsicht scheinen Fragen rund um nationale Minderheiten in den Hintergrund gerückt zu sein. Man hat heute sogar gehört, dass bei Treffen des Europarats nur über die Roma-Minderheit gesprochen wurde und nicht über andere Minderheiten in der EU. Und es ist ja bekannt, dass die Europäische Kommission sich geweigert hat, die Empfehlungen des Minority Safe Pack und andere Petitionen überhaupt in Betracht zu ziehen. Es scheint, dass Minderheitenfragen in den vergangenen 20 Jahren aus verschiedenen Gründen zweitrangig geworden sind. Auch der zunehmende Nationalismus trägt dazu bei. Nationalismus bedeutet in vielen Fällen, dass die Mehrheitsbevölkerung bevorzugt wird.“

Was bedeutet das für Minderheiten?

„Trotz vieler Verträge und Dokumente sehen wir eine Entwicklung, bei der die Rechte von Minderheiten immer weiter eingeschränkt werden, etwa bei der Bildung in ihrer eigenen Sprache. Einige Regierungen sagen, dass die Europäische Charta nicht für sie gilt oder nur für bestimmte Minderheiten. Diese Entwicklung zeigt einen schwindenden politischen Willen, Minderheitenrechte zu schützen, sowohl auf Ebene der EU als auch des Europarats.“

Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen

  • Die Sprachencharta wurde im Rahmen des Europarats erarbeitet. 
  • Dänemark hat die Charta am 1. Januar 2001 ratifiziert. Sie gilt für Deutsch in Nordschleswig.
  • Die Charta sieht den „Schutz und die Förderung der geschichtlich gewachsenen Regional- und Minderheitensprachen Europas vor. Ihre Ausarbeitung war zum einen gerechtfertigt durch das Bemühen, die kulturellen Traditionen und das Kulturerbe Europas zu erhalten und weiterzuentwickeln, und zum anderen durch die Achtung des unverzichtbaren und allgemein anerkannten Rechtes, im öffentlichen Leben und im privaten Bereich eine Regional- oder Minderheitensprache zu gebrauchen.“

Quellen: Europarat, BDN

Zugleich treten in der Öffentlichkeit die Rechte bestimmter Bevölkerungsgruppen deutlicher als früher in den Fokus. Warum nicht die der nationalen Minderheiten?

„Es gibt da eine gewisse Doppelmoral. Die Menschenrechte anderer Gruppen – Frauen, Kinder, indigene Völker – werden stark verteidigt, aber die Rechte von Minderheiten finden immer seltener Beachtung. Nationale Regierungen schränken zunehmend die Rechte von Minderheiten ein. In Spanien etwa wurde die Bildung in katalanischer Sprache eingeschränkt, und in Frankreich wird die Existenz von Minderheiten sogar geleugnet. Gerichte haben kürzlich entschieden, dass es gegen die französische Verfassung verstößt, Baskisch oder andere Sprachen für offizielle Zwecke zu verwenden. Diese Tendenz zeigt sich auch in anderen Ländern wie Polen, wo die Rechte der deutschen Minderheit beschnitten wurden.“ 

Also ein Abwärtstrend?

„Die Expertinnen und Experten kamen zu dem Schluss, dass sich die Lage verschlechtert. Einige fordern, optimistisch zu bleiben und die guten Praktiken hervorzuheben. Doch das ist nicht die allgemeine Entwicklung.“

Kann denn dann in den bisherigen Strukturen weitergemacht werden?

„Das ist der Hauptpunkt: Die meisten Expertinnen und Experten sind sich einig, dass die bestehenden Mechanismen reformiert werden müssen. Die Kritik an der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten und der Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen ist, dass sie zu langsam und zu leicht ignorierbar sind. Diese Mechanismen müssen verbessert werden.“

Heißt das, dass diese existierenden Werkzeuge nicht effektiv genutzt werden? Oder benötigen wir neue Werkzeuge?

„Beides. Es gibt Werkzeuge, die verbessert werden müssen, wie die Europäische Charta und die Rahmenkonvention, die vor 30 Jahren ein bedeutender Fortschritt waren, aber nicht so funktionieren, wie sie sollten. Zudem brauchen wir mehr Werkzeuge. Die bestehenden Dokumente sind rechtliche Verträge, aber nicht direkt anwendbar. Wenn Sie Rechte haben, diese aber nicht durchsetzen können, ist das ein Mangel.“

Welche neuen Werkzeuge sehen sie?

„Minderheiten müssen in den Institutionen der EU und des Europarats stärker sichtbar und präsenter sein. Es gibt Mechanismen für andere Gruppen wie Frauen, Kinder oder Roma, aber fast nichts für nationale Minderheiten.“

Und je größer die Konflikte in diesen Bereichen werden, desto mehr Politiker sagen, dass Minderheiten das Problem sind. 

„Und ich würde sagen, es ist das Gegenteil. Das Problem ist, wenn Minderheiten schlecht behandelt werden. Dies war teilweise der Fall in der Ukraine und Russland, wo Minderheiten zunehmend unterdrückt werden. Das verschärft die Probleme.“

Nun sind wir hier in Husum im deutsch-dänischen Grenzland. Welche Rolle können die Minderheiten hier spielen? Lange galten sie als internationale Vorbilder. Sollte das so bleiben?

„Europa kann zeigen, dass es funktioniert, wenn man Minderheitenrechte respektiert. Ein Beispiel ist die Vereinbarung zwischen Deutschland und Dänemark oder auch die Situation in Südtirol. Diese Beispiele von grenzüberschreitender Zusammenarbeit haben zu Frieden und Stabilität geführt und können als Vorbild dienen.“

In ihrer Rolle bei den Vereinten Nationen haben sie den globalen Blick auf die Minderheitenfrage gehabt. Der fehlt uns in Europa manchmal. Was können wir hier von anderen Minderheiten weltweit lernen?

„In anderen Teilen der Welt, wo Konflikte friedlich gelöst wurden, wurde das gleiche Prinzip angewendet: Minderheiten werden respektiert und gut behandelt, und so werden sie loyale Bürgerinnen und Bürger. Dies ist der Schlüssel zu Frieden und Stabilität. Ein Beispiel ist Mauritius im Indischen Ozean, wo verschiedene Sprachen und Kulturen koexistieren, ohne dass eine Sprache verboten oder eingeschränkt wird. Diese Art von Ausgewogenheit, die die Realität vor Ort widerspiegelt, ist ein Menschenrechtsansatz auch für die sprachliche und kulturelle Vielfalt. Das ist ein Modell, das auch Europa wieder verstärkt berücksichtigen sollte. Und das ist die Lektion hier in Europa: Man kann auch wieder neu lernen. Denn diese Lektion wurde vor 30 Jahren hier bereits gelernt und angewandt. Doch heutzutage scheint sie ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein.“

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