Interview

„Es geht darum, welche Bedeutung Minderheiten in der EU haben sollen“

„Es geht darum, welche Bedeutung Minderheiten in der EU haben sollen“

„Es geht um die Bedeutung von Minderheiten in der EU“

Apenrade/Pliezhausen
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Thomas Hieber
Der Europarechts-Experte Thomas Hieber sieht große Chancen auf Europas Minderheiten zukommen (Archivfoto). Foto: Cornelius von Tiedemann

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Die EU überwacht bisher nicht, ob die Regierungen den Schutz ihrer Minderheiten gewährleisten. Das soll sich ändern, sagt das EU-Parlament. Ein aktueller Bericht könnte Steine ins Rollen bringen – und von der Gesundheit über die Schule bis zum Ortsschild viele Folgen haben, sagt der Jurist Thomas Hieber im Interview.

Wenn ein neuer Reformbericht des Europaparlaments umgesetzt wird, würden die Minderheiten, die Menschen, „die die Sprachen des Nachbarlandes sprechen, aber auch alle anderen, die im Grenzland leben“ davon profitieren, sagt der Jurist und Europarechtsexperte Thomas Hieber im telefonischen Interview mit dem „Nordschleswiger“.

Er vertritt als Anwalt den europäischen Minderheitenverband FUEN und erklärt, weshalb der Bericht nach den Schwierigkeiten, denen die die Minority SafePack Initiative in der Vergangenheit begegnet ist, in Grenz- und Minderheitenregionen Hoffnung macht – und weshalb es noch ein langer Weg ist, bis die Initiative des Parlaments Realität werden kann.

Thomas Hieber, das Euopaparlament will, gestützt von mehreren EU-Institutionen, die Europäischen Verträge modernisieren. Also quasi die Grundlagen der EU. Was passieren soll, das steht in einem Bericht, der jetzt zunächst vom EU-Parlament und dann von allen möglichen Institutionen begutachtet, angepasst und verabschiedet werden muss. Warum ist das für die nationalen Minderheiten in Europa wichtig?

 

„Mit diesem Bericht, den das Europäischen Parlament nun in Straßburg angenommen hat, wird sich nun der Europäische Rat befassen müssen. Er wird sich konkret mit der Frage auseinanderzusetzen haben, ob er auf dieser Grundlage einen Konvent einberufen soll, der über die in diesem Bericht aufgeführten Vertragsänderungen debattieren muss und dann hierzu Empfehlungen formulieren muss. Sollte es zu einem solchen Konvent kommen, wird ein wichtiger Punkt dabei sein, welche Bedeutung den nationalen Minderheiten in den europäischen Verträgen beigemessen werden soll.“

Thomas Hieber

Thomas Hieber

  • Studierte Rechtswissenschaften in Paris und Potsdam
  • 2012: Verleihung der Doktorwürde an der Universität St. Gallen
  • 2012 bis 2014: Referendariat am Kammergericht Berlin
  • 2014 bis 2018: Associate im Brüsseler Büro der Kanzlei SZA Schilling, Zutt & Anschütz
  • seit 2018 eigene Kanzlei im Raum Stuttgart
  • Der EU-Rechtsexperte ist zweisprachig Deutsch und Französisch
  • Er vertritt unter anderem die FUEN

Wie sieht es da bisher aus?

„Die Verträge sehen zwar vor, dass die Rechte der Angehörigen von Minderheiten zu den Grundwerten der Union gehören. Bislang sind allerdings keinerlei Regelungen erlassen worden, die sich spezifisch mit den Belangen der Angehörigen von Minderheiten befassen. Abgesehen davon sieht die Grundrechtecharta vor, dass Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit unzulässig sind. Ferner ist auch Artikel 22 der Grundrechtecharta zu nennen, wonach die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen zu achten hat. Beide Bestimmungen haben bislang aber faktisch keine praktische Relevanz gehabt.“

Artikel 22 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen
Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.


Quelle: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften

Welche Kritik gibt es noch an den bisherigen Regelungen?

„Es besteht auf europäischer Ebene eine eigentümliche Diskrepanz. Wenn Staaten der EU beitreten wollen, prüft die Kommission sehr sorgfältig, inwieweit der Schutz von Minderheiten gewährleistet wird. Nach dem Beitritt zur EU findet dagegen keinerlei Kontrolle mehr statt, obwohl, wie gesagt, die Rechte der Angehörigen von Minderheiten zu den Grundwerten der Union gehören.“

Wie soll das verändert werden?

„Das Parlament möchte hier Abhilfe schaffen, indem die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, die Werte der EU auch nach ihrem Beitritt zu beachten. Der Kommission würde dann als Hüterin der Verträge im Prinzip die Aufgabe zukommen zu kontrollieren, ob die Mitgliedstaaten dieser Verpflichtung auch effektiv nachkommen und müsste dann gegebenenfalls, wenn dies nicht der Fall sein sollte, auch gerichtliche Schritte einleiten. Angehörige von Minderheiten könnten sich dann an die Kommission wenden, um etwaige Verstöße zu melden. Das könnte in bestimmten Ländern möglicherweise zu einer echten Verbesserung der Situation führen.“

Angehörige von Minderheiten könnten sich dann an die Kommission wenden, um etwaige Verstöße zu melden. Das könnte in bestimmten Ländern möglicherweise zu einer echten Verbesserung der Situation führen.

Thomas Hieber

Bedeutet das, dass nationale Minderheiten wie die Deutschen in Nordschleswig von der EU gar nicht ausdrücklich mitgedacht werden?

„Sprachliche und nationale Minderheiten haben bislang keine echte Berücksichtigung gefunden. Insoweit würde dieses Vorhaben, wenn es sich denn verwirklichen sollte, noch einen Schritt weiter gehen als die Minority Safepack Initiative. Diese hat sich auf sekundärrechtliche Reformen konzentriert. Jetzt würde man sozusagen noch eine Stufe höher ansetzen.“

Gerichtshof der Europäischen Union

Primärrecht und Sekundärrecht in der EU

Das Primärrecht (die Verträge) schafft die grundlegenden Rahmenbedingungen, innerhalb derer das Sekundärrecht entwickelt wird, um spezifische politische und rechtliche Ziele zu erreichen. Sämtliches Handeln der EU stützt sich auf die Verträge. Diese verbindlichen Übereinkünfte zwischen den EU-Mitgliedsländern legen Ziele und Regeln für EU-Institutionen sowie die Entscheidungsprozesse und die Beziehungen zwischen der EU und ihren Mitgliedsländern fest.

  • Die Verträge sind die Grundlage für das EU-Recht und werden in der EU als Primärrecht bezeichnet.
  • Die auf den Grundsätzen und Zielen der Verträge aufbauenden Rechtsvorschriften werden Sekundärrecht genannt und umfassen Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen.

Primärrecht

  • Das Primärrecht umfasst die Verträge, die die Grundlage des EU-Rechts bilden​.
  • Es legt die Grundsätze, Ziele und Organe der EU fest​.
  • Das Primärrecht setzt den grundlegenden Rahmen und die Befugnisse der EU fest​.
  • Es hat Vorrang gegenüber dem Sekundärrecht und genießt Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht​.

Sekundärrecht

  • Das Sekundärrecht besteht aus Rechtsvorschriften, die auf den Verträgen des Primärrechts aufbauen​.
  • Es beinhaltet Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen​.
  • Es konkretisiert und ergänzt das Primärrecht​
  • Es darf nicht gegen das Primärrecht verstoßen​

Quellen: Bundeszentrale für Politische Bildung, EU-Kommission, JuraForum.de
Foto: Gerichtshof der Europäischen Union

Die EU würde also in ihren Grundlagen verändert werden – und könnte dann diese Änderungen auch in den Mitgliedsstaaten verwirklichen, beispielsweise durch „sekundärrechtliche“ Verordnungen oder Richtlinien. Was bedeutet das für Minderheiten?

„Wenn der Bericht des Parlaments in seiner jetzigen Form tatsächlich Eingang in die europäischen Verträge finden sollte, gäbe es zwei neue Rechtsgrundlagen, auf die sich der europäische Gesetzgeber stützen könnte, um den Schutz von Angehörigen von Minderheiten effektiv zu stärken.“

Wie sähen die aus?

„Zum einen würden die bestehenden Grundlagen zur Bekämpfung von Diskriminierungen erweitert werden. Es wäre dem europäischen Gesetzgeber dann möglich, Maßnahmen zu ergreifen, um die Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit proaktiv zu bekämpfen. Des Weiteren wäre es auf dieser Grundlage künftig auch möglich, gegen Diskriminierungen aufgrund der Sprache vorzugehen. Davon könnten natürlich auch die Angehörigen von Minderheiten profitieren.“

Inwiefern wird es also Minderheiten in Zukunft leichter möglich, Hilfe in der EU zu bekommen?

„Ein wichtiges Detail in diesem Zusammenhang ist das Beschlussverfahren. Bislang obliegt die Entscheidung allein dem Rat, der hierüber nur einstimmig entscheiden kann. Künftig käme dann das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zur Anwendung, das die gleichberechtigte Einbeziehung des Europäischen Parlaments vorsieht, das traditionell die minderheitenfreundlichste Institution der EU ist.“

Was ist noch geplant?

„Der Vorschlag des Parlaments sieht darüber hinaus die Einführung einer echten Kompetenz zum Schutze der Minderheiten vor. Die EU müsste auf dieser Grundlage der Europäischen Sprachencharta und dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten beitreten. Hier wäre allerdings noch einiges im Einzelnen zu klären. Die Europäische Union wäre dann dazu verpflichtet, die Minderheiten im Einklang mit diesen Abkommen zu schützen und könnte Maßnahmen ergreifen, um die Ausübung der Rechte der Angehörigen von Minderheiten zu erleichtern.“

Man würde also nicht nur abstrafen können, sondern auch Rahmen schaffen?

„Ja, die Rechtsgrundlage, die hier im Raum steht, bezieht sich in erster Linie auf die Europäische Sprachencharta und das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats. Es wäre dann erforderlich, dass die EU beiden Abkommen beitritt, was bislang nicht geschehen ist. Und dann müsste die EU auch entsprechende Maßnahmen ergreifen, um die Rechte von Angehörigen von Minderheiten in diesem Rahmen zu gewährleisten.“

Was muss jetzt passieren, damit der Bericht Wirklichkeit wird und alle Mitgliedsstaaten diese Regeln befolgen müssen?

„Das Europäische Parlament möchte mit dieser Resolution ein Vertragsänderungsverfahren anstoßen. Über diese Möglichkeit verfügt das Parlament seit dem Vertrag von Lissabon. Der ausgearbeitete Entwurf muss in einem ersten Schritt dem Rat der Europäischen Union übermittelt werden. Dieser muss diesen Entwurf dann wiederum dem Europäischen Rat vorlegen, welcher diesen prüft und darüber befindet, ob ein Konvent einberufen werden soll. Die Hürde für die Einberufung eines Konvents ist vergleichsweise niedrig, denn ein solcher Beschluss erfordert nur eine einfache Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Und dadurch kommt diese Initiative auch in den Bereich des politisch möglichen.“

Weshalb sind sie optimistisch, dass die Vertragsänderungen mit den Verbesserungen für die nationalen Minderheiten durchkommen?

„Da sind viele Punkte drin, die für viele Mitgliedsstaaten von solcher Relevanz sind, dass sie möglicherweise bei anderen Punkten Kompromissbereitschaft zeigen werden, um die ihnen wichtigen Anliegen zu verwirklichen. Es wird sicherlich viel Raum für bestimmte Trade-Offs geben.“

Und passiert das jetzt einfach alles irgendwo im fernen Brüssel, oder können die Minderheiten und die Menschen selbst noch Einfluss nehmen?

„Natürlich muss jetzt in den Mitgliedstaaten Überzeugungsarbeit dafür geleistet werden. Das ist kein Prozess, der sich von heute auf morgen verwirklichen lässt. Das heißt, es ist wichtig, dass jetzt die Debatte in den Mitgliedsstaaten auch stattfindet über die Notwendigkeit von Vertragsänderungen. Aber es ist wie gesagt alles andere als politisch abwegig, das zu erreichen.“

Dann ist der Konvent da. Und was passiert dann?

„An so einem Konvent sind Vertreterinnen und Vertreter der nationalen Parlamente beteiligt, auch die Staats- und Regierungschefs, Abgeordnete des Europäischen Parlaments und Mitglieder der Kommission. Dieser Konvent prüft dann die Änderungsvorschläge. Ziel ist es, dass er am Ende des Tages eine Empfehlung ausspricht, mit der sich dann eine Regierungskonferenz befassen muss.“

Wir nähern uns also langsam dem Ziel?

„Ja, und hier ist, wenn man so will, das Nadelöhr. Wenn eine solche Regierungskonferenz sich auf die entsprechenden Änderungen einigen kann, dann müsste das alles noch durch die einzelnen Mitgliedsstaaten entsprechend den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden.“

Also muss das dann auch in den Staaten passieren, die nicht für den Konvent gestimmt haben? Wie wahrscheinlich ist es denn, dass das passiert?

„Das hängt davon ab, was zu welchem Ergebnis ein solcher Konvent kommt und welche Empfehlungen er ausspricht. Aber: Im Konvent sind ja schon die Staats- und Regierungschefs vertreten, und auch Vertreter der nationalen Parlamente. Die werden natürlich nur solche Empfehlungen aussprechen, die auch politisch realistisch sind. Das heißt: Die wichtigen Weichen werden im Konvent gestellt.“

Der Gedanke an Murphys Gesetz, dass alles schiefgehen wird, was schiefgehen kann, drängt sich auf...

„Selbstläufer sind es nicht. Das wissen wir aus dem Verfassungskonvent. Der Verfassungsvertrag ist ja dann trotzdem in Frankreich und in den Niederlanden abgeschmettert worden. Da standen weniger europapolitische, als vielmehr innenpolitische Aspekte im Vordergrund. Selbst wenn der Konvent sich auf bestimmte Empfehlungen einigen sollte, bleibt es ein sehr anspruchsvoller politischer Prozess.“

Dass sich die EU erneuern muss, ist allerdings nach den historischen Ereignissen der vergangenen Jahre Konsens, oder nicht?

„Die Europäische Union ist mit einer Vielzahl von neuen Herausforderungen konfrontiert, für die sie nach den jetzigen Verträgen nicht über das entsprechende Rüstzeug verfügt. Und um weiterhin handlungsfähig zu bleiben, wäre sie wirklich gut beraten, die Verträge zu überarbeiten. Gerade, wenn es darum geht, die EU abermals zu erweitern. Da erschwert das Einstimmigkeitsprinzip die Handlungsfähigkeit der EU ganz erheblich.“

Wie weit weg ist das alles zeitlich?

„Es ist ein komplexer Prozess – und es ist ein sehr langwieriger Prozess. Das heißt, dass dieser Prozess, der jetzt durch das Europäische Parlament angestoßen wurde, sich über einige Jahre hinziehen wird, wenn er auf ein positives Echo beim Europäischen Rat stoßen sollte.“

Was auch bedeutet, dass noch Zeit ist, sich zu engagieren. Wie kann ich da Einfluss nehmen auf diese Entwicklung? Wo fange ich an?

 „Es stehen Mitte nächsten Jahres die Europawahlen an. Das ist für jedermann ein Mittel, um Einfluss zu nehmen, um diejenigen Parteien zu wählen, die diese Ziele unterstützen. Gleichermaßen ist natürlich auch wichtig mit, mit den Vertretern in den nationalen Parlamenten in Kontakt zu treten und sie davon zu überzeugen, dieses Projekt zu unterstützen, insbesondere dann, wenn diese Volksvertreter zu den Regierungsparteien gehören. Und über zivilgesellschaftliches Engagement natürlich. Es gibt sehr, sehr viele zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich bei der politischen Willensbildung einbringen, auf nationaler und auf europäischer Ebene.“

Es muss also nicht jeder Jura studieren und den Rechtsweg wählen ...

„Es wäre verheerend, wenn man sich nur einbringen könnte, wenn man ein juristisches Studium hinter sich gebracht hätte. Die Europäische Union ist in der Tat eine sehr komplexe politische Organisation. Aber sie prägt den Alltag der Menschen viel mehr, als es den meisten überhaupt bewusst ist. Deswegen ist es unabdingbar, dass sich die Menschen mehr einbringen und auch mehr einbringen können, als es jetzt schon der Fall ist.“

Ist dieser Bericht auch für Menschen hier im deutsch-dänischen Grenzland interessant, die nicht zu einer der Minderheiten gehören – und wenn ja, weshalb?

„Gerade im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt können Erweiterungen der Kompetenzen der EU hier zum Tragen kommen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Abschlüsse und Qualifikationen anzuerkennen. Oder grenzüberschreitende Ausbildungen und Studiengänge mitzugestalten. Davon profitieren die Minderheiten, die die Sprachen des Nachbarlandes sprechen, aber auch alle anderen, die im Grenzland leben.“

Die Vorschläge des Europäischen Parlaments zur Änderung der Verträge gibt es hier zu lesen.

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