75 Jahre „Der Nordschleswiger“
Redakteur Heesch: „Als wenn die Geschichte lebendig wurde“
Redakteur Heesch: „Als wenn die Geschichte lebendig wurde“
Redakteur Heesch: „Als wenn die Geschichte lebendig wurde“
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„Der Nordschleswiger“ wurde am 2. Februar 75 Jahre alt. Wir bringen im Laufe des Jubiläumsjahres eine Serie über uns selbst. In diesem Abschnitt erinnern sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an eine Arbeitsaufgabe, die einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat. Bei Volker Heesch schlug es ein wie ein Blitz, als sich ein Zeitzeuge meldete.
„Nordschleswiger“-Redakteur Volker Heesch hat mit einer zweiteiligen Artikelserie über „Hohenwarte“, das frühere Lager für unbegleitete Flüchtlingskinder, dazu beigetragen, die Geschichte lebendig zu machen.
In seinem ersten Artikel, der Anfang Januar 2016 im „Nordschleswiger“ veröffentlicht und zeitgleich vom „Flensburger Tageblatt“ (shz.de) übernommen wurde, befasste er sich mit der Geschichte des Flüchtlingslagers auf dem Hof „Hohenwarte“ in Hoyerschleuse (Højer Sluse). Abgeschirmt von der Außenwelt, lebten dort etwa 140 deutsche Flüchtlingskinder von 1945 bis 1947.
Auf diesen Artikel hin gab sich eines der Flüchtlingskinder zu erkennen. Dr. Wolfgang Schritt († 2017) kam im Sommer 2016 aus Hamburg nach Hoyer, um den Ort, wo er zwei Jahre seines Lebens verbracht hatte, wiederzusehen.
Volker Heesch und Wolfgang Schritt führten angeregte Gespräche. Der zweitägige Besuch und der Austausch mündeten in den Artikel, der im August 2016 im „Nordschleswiger“ veröffentlicht wurde.
Über Wolfgang Schritts Verbindung zu der nordschleswigschen Familie Callesen, die ihm 1962 zu einer spektakulären Flucht aus der DDR verholfen hatte, kamen darin außerdem interessante Details ans Licht.
Redakteur vertritt die deutsche Minderheit im lokalhistorischen Verein
„Ich bin im Juli 2016 viele Stunden mit Schritt zusammen gewesen. Das war sehr interessant“, erinnert sich Volker Heesch. Er ist Vorstandsmitglied des lokalhistorischen Archivs in Hoyer, wo er die Interessen des Bundes Deutscher Nordschleswiger (BDN) wahrnimmt.
Heesch verrät, dass er von klein auf an heimatkundlichen Themen im Allgemeinen und Hoyer im Besonderen interessiert gewesen ist. Der 65-jährige Redakteur ist in Hanerau-Hademarschen aufgewachsen. Durch die Familie seiner Großmutter Lene Matthiesen hatte er einen engen Draht zu Hoyer. Seine Großmutter war gebürtige Hoyeranerin.
Hoyer war kein Ort und auch keine Stadt, sondern ein Flecken.
Volker Heesch, Redakteur
Heesch wohnt im „Æ Bykass“
„Meine Großmutter ist später mit meinem Opa Thomas Petersen, der aus Rodenäs stammte, weggezogen. Sie haben in Hanerau-Hademarschen ein Kaufmannsgeschäft gehabt. Die Schwester meiner Oma und meine Großtante Marie Matthiesen übernahm das Haus meiner Familie an der Herbergsgade in Hoyer. Ältere Hoyeraner werden sie noch unter ihrem Spitznamen, Marie Bykass“ kennen“, meint Volker Heesch.
Marie Matthiesen verstarb im Herbst 1983. Sie war jahrelang Kassiererin der einstigen Fleckenkasse. Deswegen ist das Haus, das Volker Heesch nach dem Tod der Großtante erbte, als „Æ Bykass“ (Fleckenkasse) bekannt.
Großtante, Lehrmeisterin in Sachen Heimatkunde
„Hoyer war kein Ort und auch keine Stadt, sondern ein Flecken. Meine Großtante hat mir sehr viele Geschichten aus der Vergangenheit von Hoyer erzählt. Sie war meine Lehrmeisterin in Sachen Heimatkunde“, unterstreicht Heesch.
Literatur brachte ihn auf die Spur des Lagers
In Literatur sei er darauf gestoßen, dass auf dem Hof „Hohenwarte“, der seit 1992 als Ferienhof und Gastronomiebetrieb geführt wird, ab 1945 bis 1947 Flüchtlingskinder untergebracht waren.
Das Thema hat auch die langjährige Leiterin des lokalhistorischen Archivs, Lis Hindrichsen, aufgegriffen. „Lis Hindrichsen hatte vordem einen Aufruf gestartet, dass man dem Archiv Material über das Flüchtlingslager zukommen lassen könnte“, sagt Volker Heesch.
Er hatte auch von Zeitzeugen gehört, dass die Flüchtlingskinder abgeschirmt waren von der Außenwelt. Aus dem geheimnisumwitterten Lager war bekannt, dass die Flüchtlinge täglich mit einem Handwagen zur Meierei kamen, um Milch abzuholen.
Deutsche Hoyeranerinnen, die ein Herz für die Kinder hatten, die sie noch nicht persönlich sehen konnten, sorgten unter anderem dafür, dass die Flüchtlinge Bettzeug bekamen. Und sie schickten ihnen zu Weihnachten Kuchen und Kekse, weiß Heesch.
„Ich bin, wie gesagt, in Literatur auf das Lager gestoßen“, sagt Volker Heesch, der sich unter anderem auf das Buch der Ärztin und Historikerin Kirsten Lylloff bezieht. In ihrem Buch „Barn eller Fjende“ befasst sich die Autorin in einem gesonderten Kapitel mit „Hohenwarte“.
„Dann habe ich da hinterher geforscht und habe meinen ersten Artikel ohne Kontakt zu Zeitzeugen veröffentlicht“, verrät Heesch. Als sein Artikel erschien, stellte sich heraus, dass Lorens Hansen (†), einer der Leiter von „Hohenwarte“, als der Hof von Anfang 1950 etwa vier Jahrzehnte als landwirtschaftliche Versuchsstation diente, auch in der Geschichte des Flüchtlingslagers forschte.
Der große Knüller
„Dann kam eben der große Knüller. Einige Wochen nach Veröffentlichung meines Artikels kriegte ich Bescheid von Lis Hindrichsen. Bei ihr hatte sich ein Mann aus Hamburg gemeldet. Dr. Wolfgang Schritt hatte sich beim Lokalhistorischen Archiv zu erkennen gegeben als eines der Flüchtlingskinder“, sagt Volker Heesch.
Er habe mit der damaligen Archivleiterin vereinbart, dass er sich mit dem Hamburger in Verbindung setzte. „Ich habe ihn angerufen, weil ich ja auch mit ihm Deutsch sprechen konnte und ich die Sache ja sozusagen angestoßen hatte“, sagt Heesch und lächelt.
„Schon fast wundersam“
Bei dem Telefonat erfuhr der Redakteur, dass Wolfgang Schritt einen neuen Computer bekommen hatte. „In der letzten Zeit waren seine Gedanken zurückgegangen auf seinen Aufenthalt südlich von Hoyer. Deswegen hatte er das Suchwort ,Hohenwarte' auf seinem Computer eingegeben und dabei diesen Artikel von mir gefunden. Das ist schon fast wundersam, dass er auf den Artikel stieß. Schritt war auch innerlich bewegt davon“, erinnert sich Volker Heesch.
Für mich schlug es ein wie ein Blitz, dass sich ein ehemaliges Kind meldet, 71 Jahre später.
Volker Heesch, Redakteur
Schlug ein wie ein Blitz
„Für mich schlug es ein wie ein Blitz, dass sich ein ehemaliges Kind meldet, 71 Jahre später. Damit hatte ich nicht gerechnet. Als ich den Artikel schrieb, hatte ich gehofft, dass sich vielleicht noch einige aus Nordschleswig an das Lager erinnern“, sagt Volker Heesch und räumt ein, dass er bei dem ersten Telefonat richtige Gänsehaut bekommen habe.
Anregende Gespräche
Wolfgang Schritt war alleinstehend nach dem Tod seiner Freundin. Er hatte auch keine Kinder, und deswegen hatte er zwei Bekannte an seiner Seite, als er die nordschleswigsche Westküste besuchte.
Schritt und sein Gefolge quartierten sich auf dem Ferienhof „Hohenwarte“ ein. „Es war, als wenn die Geschichte lebendig wurde“, erinnert sich Redakteur Heesch an die angeregten Gespräche mit dem 83-Jährigen.
Die Erinnerungen an die Nachkriegsjahre auf „Hohenwarte“ waren dem Senior gegenwärtig. „Er sagte mehrfach, dass er dankbar war, dass er 1945 in ,Hohenwarte' landete“, weiß Volker Heesch.
Dass Wolfgang Schritt trotz widriger Umstände dankbar war für den Aufenthalt, hing unter anderem damit zusammen, dass Frauen und Männer aus Hoyer ihnen halfen. Durch kleine Hilfestellungen brachten die Leute aus dem Dorf und einige der Lagerleiter Lichtblicke in den eintönigen Alltag.
Zusammen mit einem Lehrer und 23 Jungen aus seiner Danziger Schulklasse flüchtete Schritt Anfang 1945 aus einem Lager der Kinderlandverschickung Tuchel in Westpreußen per Eisenbahn gen Norden. Die Leitung des Kinderflüchtlingsheims hatte zunächst Dr. Gustav Kuhlmann, der bereits im April 1945 mit Schülerinnen und Schülern des Internats „Hohenelse“ bei Danzig nach Hoyer gekommen war.
Hoyer erkundet
Volker Heesch und seine Kollegen vom lokalhistorischen Archiv hatten 2016 ein spannendes Rahmenprogramm zusammengestellt für die Gäste aus Hamburg.
Auf einem Fußmarsch durch das Dorf hatte Schritt Gelegenheit, die ehemalige Molkerei zu besichtigen. Schritt war einer der Jungen, die dort oft mit dem Ziehwagen Milch abgeholt hatten, und vom dänischgesinnten Verwalter mit Milch oder Buttermilch bewirtet wurden.
Volker Heesch lud die Gäste zu sich nach Hause. Sein Vater Walter Heesch († 2019) lebte damals bei ihm. Die beiden Senioren hatten viel zu bereden, obwohl sie sich zum ersten Mal trafen.
„Mein Vater war Jahrgang 1924. Walter Schritt war neun Jahre jünger. Aber sie waren beide aus der Kriegsgeneration“, sagt Heesch.
Erinnerungsbuch und weiterer Zeitzeuge
Wenige Monate nach dem Beisammensein in Hoyer sei Wolfgang Schritt sehr krank geworden und Anfang 2017 verstorben, berichtet Heesch. Er habe einige Zeit später noch einmal Post aus Hamburg bekommen mit einem kleinen Büchlein.
„Das waren die Lebenserinnerungen von Wolfgang Schritt. Das Büchlein haben Freunde von ihm nach dessen Tod herausgegeben“, sagt der Hoyeraner. Weil er auch erwähnt wurde und seine „Nordschleswiger“-Artikel auch darin verarbeitetet wurden, haben Schritts Bekannte ihm das Erinnerungsbuch zugeschickt.
Dr. Schritt hatte Hoyer bis an sein Lebensende als Ort der Befreiung in Erinnerung, obwohl er von seiner Familie getrennt wurde und eine schreckliche Flucht hinter sich hatte.
2020 bekam Volker Heesch noch mal eine Reaktion von einem ehemaligen Kind. „Der Mann ist Jahrgang 1937. Er ist als Sohn einer Gesandtschaftsangehörigen in Budapest geboren worden. Er war zeitgleich mit Wolfgang Schritt in ,Hohenwarte‘“, fasst Volker Heesch zusammen.
Der Zeitzeuge lebt in Baden-Württemberg bei Lindau, und Heesch habe mehrmals mit ihm telefoniert und per E-Mail mit ihm kommuniziert. Der Senior sei 2020 im Netz auf den Artikel gestoßen. Er habe versprochen, dem Redakteur weitere Erinnerungen zukommen zu lassen. „Inzwischen ist er leider erkrankt, und aufgrund von Corona hatte ich auch keine Möglichkeit, ihn zu besuchen“, bedauert Heesch.
Für Volker Heesch haben die Begegnung mit Wolfgang Schritt und dem Lindauer große Bedeutung gehabt. Vor allem zeigte es ihm die vielen Aspekte der deutsch-dänischen Vergangenheit in Nordschleswig: „Und ich konnte da auch vieles wiederfinden, was ich aus meiner eigenen Familie wusste, und dass 1945 eben auch Menschlichkeit gefragt war.“