Leitartikel
„Skandal ohne Empörung“
Skandal ohne Empörung
Skandal ohne Empörung
Cornelius von Tiedemann thematisiert in seinem Leitartikel die anlasslose Vorratsdatenspeicherung, die Dänemark trotz Verbotes des Europäischen Gerichtshofes weiter vornimmt.
Wenn sogar der Justizminister von einem Skandal spricht, dann muss schon etwas sehr faul im Staate Dänemark sein. Doch der Telekommunikationsdaten-Fall hat über die politischen Kreise hinaus kaum Wellen geschlagen im dänischen Sommerland.
Wir haben mehrfach über die Sache berichtet.
In den Jahren 2012 bis 2019 sind in Tausenden Fällen Informationen über Kunden von Telekommunikationsanbietern an die Polizei weitergeleitet worden. So weit alles in Ordnung – jedenfalls aus dänischer Sicht.
Die Mobilfunkanbieter zum Beispiel müssen der Polizei Auskunft geben, wenn diese dazu eine richterliche Anordnung vorlegt. Wann hat der Kunde mit wem von wo aus telefoniert und wie lange, zum Beispiel. Oder auch: Welche Webseite hat er sich wann angesehen? Wem hat er wann eine E-Mail geschrieben? Ein Jahr lang müssen die Telekommunikationsunternehmen solche Daten über jeden ihrer Kunden bereithalten. Also auch über dich und mich. Anlasslose Vorratsdatenspeicherung nennt sich das.
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat sie vor Jahren bereits untersagt. Dänemark, wie einige andere Länder auch, hat dennoch weitergemacht.
Jetzt ist herausgekommen, dass die Daten, die die Polizei von den Telekommunikationsunternehmen erhalten, zu Ermittlungszwecken genutzt und in zahlreichen Fällen vor Gericht als Beweise angeführt hat, vielfach fehlerhaft waren.
In 10.700 Fällen sollen Urteile aufgrund solcher möglicherweise fehlerhafter Teledaten gefällt worden sein. Bekannt ist, dass das System, das die Daten für die Ermittlungen der Reichspolizei aufbereitet, Fehler verursacht haben soll. Diese Fehlerquelle ist laut Reichspolizei im März behoben worden.
Doch auch als die Polizei bereits von dem systematischen Fehler wusste, soll sie über Monate noch fehlerhafte Vorrats-Daten an die Justiz weitergeleitet haben. Und: Das Justizministerium ist erst nach der Wahl, und zwar unmittelbar nach der Wahl, über die Panne informiert worden.
Es geht in vielen der Fälle um schwere Straftaten. Einer der bekanntesten Fälle, der betroffen ist, ist der Fall der im Sommer 2016 verschwundenen und im Dezember des- selben Jahres tot aufgefundenen Emilie Meng. Die Daten der Telefonanbieter darüber, wo sich bestimmte verdächtige Personen zu bestimmten Zeitpunkten aufhielten, waren, das steht nun fest, ermittlungstechnisch nicht zu gebrauchen – wurden aber gebraucht.
Der Skandal wirft Fragen auf:
Warum hält sich Dänemark nicht an europäisches Recht und untersagt die anlasslose Vorratsdatenspeicherung? Wer soll dem Staat noch vertrauen, wenn er nicht nur alle Bürger unter Generalverdacht stellt, sondern auch noch mit fehlerhaften Daten ermittelt und (ver-)urteilt?
Wer soll einer Polizei vertrauen, die Justiz, Regierung und Parlament über solch schwerwiegendes Versagen wider besseres Wissen im Unklaren lässt?
Es ist bewundernswert, wie unerschütterlich das Vertrauen der Menschen in Dänemark in Staat und Gemeinschaft ist. Vielleicht ist das, neben der Ferienzeit, auch ein Grund dafür, dass die Empörung sich (noch) nicht so recht einstellen will. Doch wenn der Staat und seine Institutionen das Vertrauen seiner Bürger in solch grobem Maße verletzen, wie es im Teledaten-Skandal nicht nur den Anschein hat, sondern nach allem, was bekannt ist, schon feststeht, dürfte doch wenigstens mal ein wenig Empörung aufkommen.
Nicht gegen den Staat, gegen das Gemeinwesen – sondern darüber, dass wir einander offenbar nicht mehr vertrauen wollen und können.