Leitartikel
„Ist genug jetzt wieder genug?“
Ist genug jetzt wieder genug?
Ist genug jetzt wieder genug?
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Die derzeit hohen Inflationswerte sind besorgniserregend. Trotz vieler Schattenseiten können sie in unserer Überflussgesellschaft und Kultur des „Nie genug", aber auch als eine Chance für das Klima und mehr Nachhaltigkeit betrachtet werden, meint „Nordschleswiger“-Journalist Lorcan Mensing.
Als Studierender in Kopenhagen besitze ich ein eigenes Auto, dabei wären fast alle meine Reiseziele problemlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Obwohl mir der Ernst der Lage bezüglich der Klimakrise bewusst ist, fliege ich außerdem gelegentlich in den Urlaub, wenn auch inzwischen seltener. Und auch neue Kleidungsstücke habe ich mir bis vor Kurzem gerne gekauft, obwohl mein Kleiderschrank bereits aus allen Nähten platzt. In den vergangenen Jahren habe ich mich manchmal für den Konsum solcher Luxusgüter geschämt, doch das Schamgefühl hat mich in diesen Situationen dennoch nicht davon abgehalten, zugunsten meines eigenen Nutzens und Interesses zu handeln.
Täglich werden wir mit unseren Moralvorstellungen konfrontiert. Das Klimaproblem ist so ein Fall. Obwohl viele von uns etwas Gutes tun wollen, fällt es uns nicht leicht, uns zu verändern. Angesichts des Klimawandels ist es aber zwingend notwendig, dass wir unser Verhalten ändern, um die Emission klimaschädlicher Gase drastisch zu reduzieren. Bisher haben viele Menschen ihre kurzsichtigen Eigeninteressen trotz dieses Wissens noch nicht ausreichend zurückgestellt.
Erst kürzlich hat eine Meinungsumfrage von „Epinion“ ergeben, dass die Mehrheit der dänischen Bürgerinnen und Bürger zwar angesichts der Klimaveränderungen besorgt ist, aber gleichzeitig nicht zu höheren finanziellen Ausgaben oder Verhaltensänderungen im Kampf gegen den Klimawandel bereit ist. Obwohl die Hälfte der Befragten vorgab, den CO2-Fußabdruck kleinhalten zu wollen, meinte nur jede fünfte Person, dass sie tatsächlich nachhaltig leben würde. Nur 14 Prozent der Befragten gaben zudem an, bewusst kaum oder gar nicht mit dem Flugzeug zu fliegen, möglichst Fahrrad statt Auto zu fahren und selten oder nie Kleidung und Fleisch zu kaufen.
Wir Menschen biegen uns die Welt häufig zurecht, um unser Gewissen zu befriedigen, obwohl wir uns gegen das moralisch „Richtige“ entscheiden. Zum Teil setzen wir auch auf die Methode des Wegschauens. Und überhaupt: Eine einzelne Person kann doch nichts gegen den Klimawandel ausrichten …
Von dieser Annahme müssen wir uns verabschieden, denn einzelne Menschen – vor allem aus dem globalen Norden – haben die Klimakrise mitzuverantworten, auch wenn große Unternehmen etwa 70 Prozent der Umweltverschmutzung verursachen. Natürlich muss vor allem an den großen Stellschrauben gedreht werden, doch Einzelpersonen dürfen dadurch nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Ein gemeinsames Umdenken und Handeln zur Änderung klimaschädlicher Strukturen ist entscheidend, und die notwendige Macht der Gemeinschaft braucht die Motivation der Einzelnen!
Ich gebe zu, dass auch ich zu der Mehrheit der Menschen gehöre, die noch nicht genug tut, um gegen die Klimaveränderungen anzugehen. Ich sehe mich nun aber wegen des Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine, aufgrund der steigenden Verbraucherpreise durch die Inflation dazu gezwungen, meinen Lebensstil zu ändern. Ich denke zum ersten Mal ernsthaft darüber nach, mein Auto zu verkaufen, nur eine statt mehrerer Lampen in der eigenen Wohnung leuchten zu lassen, weniger zu heizen und vorerst keine neue Kleidung zu kaufen, die ich nicht zwingend brauche. Ich ändere meinen Lebensstil erst jetzt wirklich, wenn auch in erster Linie zugunsten meines eigenen Geldbeutels.
Ich besitze das große Privileg, in Wohlstand augewachsen zu sein, in einer Überflussgesellschaft, in der es für die meisten Menschen von allem bisher immer mehr gab, als wir nutzen und genießen konnten. Doch auch das Gefühl des Konsumieren- oder Geld-vermehren-Müssens sowie die Kultur des Immer-mehr-Wollens kann müde und unzufrieden machen. Immer fehlt uns etwas zum großen Glück, und das schönste Kleidungsstück ist immer genau das, was wir noch nicht besitzen.
Dabei ist Kleidung in Dänemark und in Deutschland absolute Massenware. Einer neuen Studie zufolge tragen wir jedes fünfte der 95 Kleidungsstücke, die durchschnittlich in unseren Kleidungsschränken hängen, gar nicht. Der CO2-Ausstoß durch die Produktion von Kleidung ist, global gesehen, größer als beim Flugverkehr und bei der Schifffahrt zusammen.
Eine völlig enthaltsame Lebensweise, um ausschließlich moralisch „richtig“ zu handeln, ist kaum realistisch, doch eine noch kritischere Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensweise wäre wünschenswert.
Die Gefährdung unseres Wohlstands durch die steigende Inflation und der daraus entstandene Mangel auf vielen Ebenen sind besorgniserregend, keine Frage. Wir müssen nun lernen, sparsamer zu leben. Die Preiserhöhungen ums Mehrfache werden für Rentnerinnen und Rentner, Arme und Familien schwer zu schaffen sein, wenn bereits alltägliche Lebensmittel zu Luxuswaren werden. Wichtig ist daher, dass alles dafür getan wird, die Krise so sozialverträglich und gerecht wie möglich zu machen und die Herausforderungen gemeinsam zu schultern. Der Staat ist hierbei in der Pflicht, Menschen mit wenig Geld zu helfen.
Für privilegierte Teile der Gesellschaft bietet die steigende Inflation gleichzeitig aber auch eine Chance, Verhalten zum Vorteil des Klimas zu verändern, Verzicht neu zu lernen und mit einem Weniger umzugehen. Die Verhaltensänderungen und die neue Kultur des Genug können also auch als eine Vorübung für eine Lebensweise betrachtet werden, die wir aus ökologischen Gründen ohnehin lernen müssen.