Interview
Müntefering: Ältere Menschen sind nicht immer hilfsbedürftig
Müntefering: Ältere Menschen sind nicht immer hilfsbedürftig
Müntefering: Ältere Menschen sind nicht immer hilfsbedürftig
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Wie sieht die Gesellschaft ältere Menschen - etwa nur als Hilfsbedürftige? Franz Müntefering als Chef der Interessenvertretung der Senioren ist strikt dagegen.
Der Vorsitzende der Interessenvertretung der Senioren, Franz Müntefering (81), hat sich dagegen ausgesprochen, in älteren Menschen nur Hilfsbedürftige zu sehen.
«Das ist keine Generation, die nur Hilfe braucht», sagte der frühere SPD-Vorsitzende und jetzige Chef der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Vor dem Deutschen Seniorentag (24.-26.11.), der am Mittwoch online beginnt, sprach er sich gegen Niedriglöhne im Pflegesektor aus.
Frage: Der Deutsche Seniorentag war lange in Präsenz in Hannover geplant, recht kurzfristig wurde das geändert. Warum war das so?
Antwort: Wir wollten natürlich gerne eine Präsenzveranstaltung haben. Wir wollten alle Möglichkeiten nutzen - 2G plus, weniger Besucher, größere Lücken in der Sitzordnung und Masken. Aber die Situation eskalierte weiter. Und die Vernunft spricht dafür, die Präsenz aufzugeben. Die Vernunft spricht allerdings auch dafür, nicht zu resignieren, sondern etwas zu machen, das den Deutschen Seniorentag in seiner Essenz zeigt.
Ein wichtiges Anliegen ist die Teilhabe - wie steht es darum?
Es geht darum, welchen Anteil die älter werdenden Generationen an der Gesellschaft haben. Die Gesellschaft muss den Älteren Teilhabemöglichkeiten geben, sie dürfen nicht am Rande stehen. Seniorinnen und Senioren müssen mitmischen können in der Gesellschaft, in der Politik, in der Familie, im Ort, in der Kommune. Sie müssen das aber auch tun wollen, das ist immer auch eine Bringschuld. Wir dürfen nicht nur empfangen, sondern sind verpflichtet, uns auch selbst einzubringen und unseren Teil beizutragen. Das ist ein Geben und Nehmen.
In der Corona-Pandemie schien es, als werde die Teilhabe schwächer.
Eine Schwäche in der Argumentation zu Beginn der Pandemie war: Man hat das Ganze fokussiert auf vulnerable Menschen, wie das damals hieß - Menschen, die in den Heimen sind. In den Heimen sind aber relativ wenige von den 20 Prozent der Menschen, die älter sind als 65 Jahre. Etwa vier Millionen Menschen sind pflegebedürftig, davon sind aber drei Viertel zu Hause. Das heißt, wenn wir über die Älteren sprechen, dann sprechen wir nicht nur über die Hilfsbedürftigen, die es natürlich gibt. Sondern wir sprechen auch über die, die durchaus noch aktiv sind und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. 65 ist eben nicht außen vor, und da sind auch noch ganz viele, die mit 70 oder 80 autark leben können und das auch tun. Das ist keine Generation, die nur Hilfe braucht.
Sondern?
Man hat mit 65 plus Erfahrung, Wissen und Können. Und viele engagieren sich auch - ohne die Älteren gäbe es im gesellschaftlichen Ehrenamt große Lücken. Die Älteren brauchen den Mut, ein gutes Leben zu suchen und in der Gesellschaft die Chance, das zu tun. Das Problem liegt nicht so sehr zwischen den Generationen. Die Wahrheit ist natürlich, dass es vernünftige Alte gibt und vernünftige Junge und Vernünftige dazwischen. Diese Vernünftigen müssen sich in Deutschland unterhaken und dafür sorgen, dass nicht die Verrückten das Sagen kriegen. Wir Alten wissen das. Unsere Demokratie braucht die älteren Generationen, und sie kann sich in hohem Maße auf sie verlassen. Die meisten von uns haben sich in der Pandemie sehr rational verhalten und das getan, was von ihnen erwartet wurde. Manchmal hat die Gesellschaft ihnen zu viel abverlangt - wenn in Heimen Menschen sterben mussten, die alleine waren. Das war menschenunwürdig, das darf nicht sein.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Nicht nur der Klimaschutz, der uns auch wichtig ist, und die Pandemie, die wir auch bekämpfen wollen, sind internationale Herausforderungen, sondern auch das Zusammenleben insgesamt.
Wir vertreten die Interessen der Älteren, und das gehört zur Demokratie auch dazu. Das klingt immer gleich so nach Lobby, wenn man davon spricht, Interessen zu vertreten, aber das ist ein Teil Demokratie. Man darf in der Demokratie die Wünsche und die Notwendigkeiten nicht verdrängen. Ob sie erfüllt werden können oder ob sie erfüllt werden, ist eine ganz andere Frage. Da muss man auch Kompromisse machen. Aber wir wollen auf jeden Fall deutlich machen, wo die Probleme der Älteren liegen. Es gab noch nie eine so große Gruppe von alten und sehr alten Menschen. Und natürlich haben wir auch Anspruch auf ein menschliches Leben, auf ein gutes Leben. Die Gesellschaft muss versuchen, das zu ermöglichen und zu unterstützen.
Gibt es Anliegen, wo für Sie keine Kompromisse möglich sind?
Ganz dringenden Handlungsbedarf sehen wir im Pflegesektor, da sind uns besonders Respekt und Achtung vor denen, die da beschäftigt sind, wichtig. Es gibt immer noch Pflegekräfte, die zu Niedriglöhnen arbeiten - das ist nicht in Ordnung. Es gab einen Anlauf der geschäftsführenden Bundesregierung, einen flächendeckenden Tarifvertrag hinzubekommen. Das ist dann letztlich doch nicht gelungen. Der Staat kann nicht die Löhne festsetzen. Er könnte aber - und das muss er doch versuchen - einen flächendeckenden Tarifvertrag anregen. Ich kann all denen, die in dem Sektor beschäftigt sind, nur empfehlen: Geht in die Gewerkschaften, organisiert euch. Übrigens sind die allermeisten, die gepflegt werden, zu Hause, daher muss man darüber nachdenken, ob man nicht wie bei den Kindererziehungszeiten auch eine Pflegezeit haben soll - für Menschen, die aus dem Beruf ausscheiden und für eine Zeit die Pflege übernehmen.
Bedeutet der digitale Seniorentag eine besondere Herausforderung?
Wir Älteren müssen auch eine große Offenheit haben für den Umgang mit digitalen Möglichkeiten. Ich bin ja selbst auch in hohem Maße noch Anfänger. Damit gehen wir vorsichtig um. Man muss nicht in den sozialen Medien mitmachen, aber man sollte so viel von der digitalen Kommunikation verstehen, dass man kommunizieren kann mit Verwandten, Bekannten, Freunden, so dass man auch hier Teil der Gesellschaft ist. Die Sorge mancher Älterer ist, dass ein völlig neues Leben beginnen soll, dass die alten Dinge abgebrochen werden sollen. Das ist aber nicht so. Man hat immer noch das Telefon, das Fernsehen, das Radio und die Bücher und Zeitungen. Aber wir müssen die neuen Möglichkeiten der Kommunikation eben auch nutzen. Das ist die Chance eines Fortschritts.
ZUR PERSON: Franz Müntefering, 81, ist der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen. Er war unter anderem SPD-Chef, Vizekanzler, Bundesminister für Arbeit und Soziales und SPD-Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag.