Folkemøde

Junge Jüdin: In Gaza ereignet sich ein Völkermord

Junge Jüdin: In Gaza ereignet sich ein Völkermord

Junge Jüdin: In Gaza ereignet sich ein Völkermord

Allinge
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Zelma Feldmann Lewerissa auf der großen Bühne des Folkemøde Foto: Walter Turnowsky

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Eine palästinensisch-jüdische Allianz möchte die verhärteten Fronten in der Diskussion über den Konflikt im Nahen Osten aufweichen. Beim Folkemøde auf Bornholm zeigten sie, wie sie mit ihren sehr persönlichen Erzählungen die Grundlage für einen Dialog schaffen wollen.

Ibrahim El-Hassan steht einsam auf der größten Bühne des Folkemødes. Im Publikum herrscht konzentrierte Stille, denn der junge Mann erzählt seine sehr persönliche Geschichte und die Geschichte seiner Familie.

„Ich stehe hier mit meiner Erzählung, die ein Glied in dem langen Echo ist, das 1948 begann“, sagt er.

In dem Jahr wurde seine Familie – wie 700.000 andere palästinische-arabische Menschen auch – aus dem späteren Israel vertrieben.

Holocaust in der Familiengeschichte präsent

Nach ihm tritt Zelma Feldmann Lewerissa ebenso alleine auf die Bühne. Auch sie beginnt ihre Erzählung mit der Geschichte ihrer Familie. 

„Ich bin mit dem Erbe des Holocaust aufgewachsen; mit der Erzählung, angefangen mit der Flucht meiner Familie vor der Zeit des Holocaust, vor Pogromen und Judenverfolgung in der Ukraine, bis zu armen Verhältnissen als Geflüchtete in Dänemark und der erneuten Flucht während des Zweiten Weltkriegs“, berichtet sie.

Neue Zusammenarbeit

Beide gehören der „Palästinensisch-Jüdischen Allianz für einen gerechten Frieden“ an, die nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Vergeltungsangriff Israels auf Gaza gegründet worden ist. Ihr Anliegen ist es nicht unbedingt, sich einig zu werden, sondern über ihre persönlichen Erzählungen den Dialog und das gegenseitige Verständnis zu fördern. 

Ibrahim El-Hassan berichtet davon, sich als Fremder im eigenen Land zu fühlen. Foto: Walter Turnowsky

El-Hassan berichtet von dem Gefühl der Entwurzelung. Ein Gefühl, das er zum ersten Mal spürte, als ihm in der Schule klar wurde, dass seine Familie eine sehr andere Geschichte hat als die seiner Klassenkameradinnen und -kameraden. Und das, obwohl er den Heimatort seiner Familie nie gesehen hat.

„Wir alle können uns manchmal als Fremde fühlen, sei es beim Gemüsehändler, in der Schule, zu Hause oder, was mich anbelangt, in dem Land, von dem ich dachte, dass ich hier verwurzelt bin.“ 

Die Scham der Jüdin

Feldmann Lewerissas Großvater gelang die Flucht über den Öresund nicht. Er war verraten worden und kam ins Konzentrationslager Theresienstadt. Ihre Mutter wollte die existenzielle Angst, die sie spürte, nicht an die Tochter weitergeben. Diese sollte sich nicht schämen, Jüdin zu sein, ihre Identität nicht verstecken.

Doch so ganz gelang es der Mutter nicht. Als sie die dreijährige Zelma im Kindergarten abholte und sagte, sie sollten Chanukka feiern, bat diese sie, still zu sein, „denn die anderen wissen nicht, was Chanukka ist“.

„Diese Scham über meine jüdische Identität setzte sich während meiner Schulzeit fort, und ich erfand eigenartige Erklärungen dafür, warum ich keinen Weihnachtskalender habe“, sagt die junge Frau.

Das jüdische Disneyland

Auch verbarg sie die Tatsache, dass sie statt zum Sport zu gehen, in jüdischer Kultur und Religion unterrichtet wurde. Im Unterricht wurde Israel als religiöses Konzept und als die Heimat aller Jüdinnen und Juden dargestellt. Die Familie besuchte das Land unzählige Male.

„Ich erlebte es als ein jüdisches Zuhause für mich, als meine Heimat. Ein Ort, an dem man als Jude nicht einer kleinen geheimen Gemeinschaft angehört. Für mich war es ein mythisches jüdisches Disneyland“, beschreibt Feldmann Lewerissa ihre Kindheitserinnerungen.

Vor der Feldstudie gab es in mir einen Widerstand dagegen, Worte wie ‚ethnische Säuberung‘ und ‚Apartheid‘ zu verwenden, um zu beschreiben, was in Palästina passiert und sich in den vergangenen 76 Jahren ereignet hat. Heute habe ich kein Problem damit, diese Worte zu verwenden.

 

Zelma Feldmann Lewerissa

Die Besatzungsmacht

Für den Palästinenser El-Hassan ist dieses „Disneyland“ die Besatzungsmacht: „Meine Erzählung ist nicht nur meine eigene. Es ist eine größere Erzählung von einem Volk, das vertrieben worden ist. Von einem Volk, das unter einer brutalen Besatzungsmacht lebt und einem Volk, das alleine steht, aber nie erdrückt wurde.“

Feldmann Lewerissa wurde von ihrer Mutter zu Toleranz erzogen. Dies galt insbesondere gegenüber den palästinensischen Nachbarinnen und Nachbarn in dem Kopenhagener Viertel, in dem sie aufgewachsen ist. Weder sie noch ihre Familie sahen sich als zionistisch. Ihre Vorstellung war auch, dass viele Israelis und Palästinenser ein friedliches Miteinander anstrebten.

Neue Sicht auf Israel

Dieses Bild wurde 2022 während ihrer anthropologischen Diplomarbeit zerschlagen, als sie palästinensisch-israelische Paare studierte. Sie erfuhr, dass diese Paare sich als rein israelische ausgeben mussten, um nicht bedroht zu werden, „weil sie als Bedrohung für den jüdischen Ethno-Staat gesehen werden“.

„Vor der Feldstudie gab es in mir einen Widerstand dagegen, Worte wie ‚ethnische Säuberung‘ und ‚Apartheid‘ zu verwenden, um zu beschreiben, was in Palästina passiert und sich in den vergangenen 76 Jahren ereignet hat. Heute habe ich kein Problem damit, diese Worte zu verwenden“, sagt Feldmann Lewerissa.

Zelma Feldmann Lewerissas Bild von Israel hat sich seit ihrer Kindheit radikal verändert. Foto: Walter Turnowsky

Und angesichts der Bilder, die uns aus Gaza erreichen, verwendet sie ein weiteres Wort, das die israelische Regierung weit von sich weist. „Ich habe kein Problem damit und keine Zweifel darin, das, was derzeit in Gaza geschieht und in den vergangenen acht Monaten geschehen ist, als Völkermord zu bezeichnen.“

Der Dialog schafft Hoffnung

Zelma Feldmann Lewerissa fühlt sich in fataler Weise an das Tagebuch erinnert, das ihr Großvater aus Theresienstadt mitgebracht hatte. Er schrieb von den schreienden Kleinkindern, den weinenden Alten, den Kranken und Verwundeten – dem Grauen im Konzentrationslager.

„Man kann nicht leugnen, dass die Beschreibung des menschlichen Elends meines Opas an das erinnern, was wir live aus Gaza sehen“, sagt die Jüdin.

Mitten in der Verzweiflung schöpft Ibrahim El-Hassan einen Funken Hoffnung aus Worten wie diesen. „Im Schatten der Spaltung, im Schatten der Polarisierung sehe ich eine neue Generation von Palästinenserinnen und Palästinensern, Juden und Jüdinnen sowie anderen, die zusammenhalten und einander umarmen, wenn es am allermeisten schmerzt“, so der Palästinenser.

Im Publikum sind nach dem Applaus vornehmlich nachdenkliche Mienen zu erkennen. 

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