Vor 100 und vor 50 Jahren
Chronik: Von Jubiläen, Todesfällen und Verbrechern
Chronik: Von Jubiläen, Todesfällen und Verbrechern
Chronik: Von Jubiläen, Todesfällen und Verbrechern
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Die Schlagzeilen von diesem Oktober sind ganz anders als noch vor 100 und vor 50 Jahren. Jürgen Ostwald hat im Archiv die Zeitungen durchforstet und nimmt die Leserinnen und Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit.
Dienstag, 4. November 1924
Vom Büchertisch: „Groot Huus“
„Groot Huus“ Spel in een Uptog“ von Ingeborg Andresen. Verlag des Schleswig-Holsteinischer-Bundes, Flensburg (Lutherhaus), 1 Mark zuzüglich Port. - Als 1. Heft einer neuen „Schleswig-Holsteinische Heimatabende“ betitelten Schriftenreihe des Schleswig-Holsteiner-Bundes ist soeben das im Juli mit starkem Erfolg auf der Heimattagung in Leck aufgeführte satirische Spiel aus dem Grenzgebiet „Groot-Huus“ von Ingeborg Andresen erschienen. In dem gut aufgebauten Werkchen brandmarkt die bekannte Verfasserin, deren Schauspiel „De Roop“ kürzlich solches Aufsehen erregte, die verlogene Arbeitsweise gewisser Dänenkreise. Der verkrachte Bauunternehmer August Futsch hat neuerdings als Vertrauensmann des alldänischen „Schleswigschen Vereins“ einen feinen Bontje gefunden: Er soll nun gern einem Oberagitator Lehmann die Früchte seiner auf materiellen Vorteilen aufgebauten Werbetätigkeit vorführen. In Ermangelung anderer Anhänger möchte er in einem kleinen Dorf mithilfe der betrügerischen Ökonomin die halb wunderlichen Insassen des Armenhauses für eine kleine politische Versammlung verwenden. Wie er infolge einer Verwechslung von Seiten eines der Pfleglinge, der anstatt des Herrn Lehmann den neuen „Lehnsmann“ (Gemeindevorsteher) herbeiholt, damit hineinfällt, zeigt das Lustspiel, das zwar allerlei Schwankmotive verwendet, aber in seiner guten Schilderung des Armenhauslebens trotz der absichtlichen Tendenz auch literarischen Wert besitzt, in befreiender Weise. In Schleswig-Holstein vor allem, doch auch anderswo in Kreisen, denen die Grenzsache am Herzen liegt, dürfte das flotte, in vorzüglichem Plattdeutsch geschriebene Spiel bald ein viel gegebenes Stück werden.
Diese Rezension stammt aus der Feder von Klaus Witt in Flensburg, der damals gelegentlich für unsere Zeitung schrieb. Der Schriftsteller und Heimatforscher Klaus Witt (1890-1964) war 1920 kurze Zeit im Schuldienst in Apenrade und von 1921 bis 1942 Studienrat in Flensburg. Er gründete 1920 in Flensburg die bald weit bekannte „Niederdeutsche Bühne Flensburg“, die bis heute besteht. – Von Ingeborg Andresen, die viele unserer Leserinnen und Leser kennen, war bereits in der August-Chronik 2024 dieser Rubrik „Vor 100/50 Jahren“ ausführlicher die Rede.
Freitag, 7. November 1924
Broacker. Der Kunstmaler Rhode vom Kopenhagener Nationalmuseum hat in diesen Tagen die Kirche inspiziert, in der sein Assistent mit der Freilegung der Kalkmalereien beschäftigt ist. Gleichzeitig hat der Architekt A. Nyström Aufmessungen für die Ausbesserung der Kirche vorgenommen und hierbei nachgewiesen, dass ein Teil der Kirche aus dem 12. Jahrhundert stammt.
Die mittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Wandmalereien in Broacker wurden im Herbst des Jahres 2023 entdeckt. Der Maurer aus dem nahegelegenen Dorf Dynt, der ganz andere Aufgaben hatte, entdeckte unter der Putzschicht im Osten der Kirche Malereien, ahnte ihre Bedeutung und unterrichtete sofort den Pastor, der seinerseits einen gerade in Hadersleben weilenden Kunsthistoriker des Nationalmuseums anrief, der seinerseits sofort kam und die Bedeutung der Entdeckung klar erkannte. So begannen die Freilegung und Restaurierung der heute sichtbaren „kalkmalerier“ in Broacker.
Sonnabend, 8. November 1924
Ein Zeitungsjubiläum
Das „Deutsche Volksblatt“ in Novisad-Neusalz, die Tageszeitung der Deutschen des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen, feierte am 25. Oktober den Tag, an dem vor fünf Jahren die erste Nummer erschien. Das Blatt ist ein wirkliches Volksblatt, und die Namen des politischen Hauptschriftleiters Dr. Perz und des Leiters des Feuilletons Bruno Kremling sind weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt geworden. Auch unsere Wünsche gelten der Kollegin, die eine wichtige Führerin des Deutschtums im südslawischen Staate sich zu nennen ein Recht und ein Verdienst hat.
In der Tat war das „Deutsche Volksblatt“ im Neusatz für das Deutschtum im südöstlichen Europa von großer Bedeutung. Unsere Zeitung schrieb damals fälschlich Neusalz (s. o.) und verlegte die Zeitung damit ins niederschlesische Neusalz an der Oder (heute polnisch Nowa Sol). Es handelt sich aber um Neusatz (serbisch: Novi Sad, ungarisch: Ujvidek, slovakisch: Novy Sad), eine Stadt 70 Kilometer nordwestlich Belgrads und zweitgrößte Stadt Serbiens (heute ca. 240.000 Einwohnende). Um 1900 lebten dort 30.000 Menschen, 6.000 waren deutschsprachige Untertanen des österreichischen Kaiserhauses. Im „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ gab es in der damaligen Zwischenkriegszeit (nach 1929 „Königreich Jugoslawien“) zahlreiche deutschsprachige Zeitungen, und zwar im Banat, in der Batschka, in Krain, Kroatien, Slowenien und der Steiermark. Die wichtigste aber war die Zeitung in Novi Sad.
Sonnabend, 8. November 1924
Hans Thoma gestorben
Der Altmeister der deutschen Malerei, Professor Hans Thoma, ist heute Vormittag entschlafen. Obwohl man schon seit Tagen mit der Möglichkeit seines Ablebens rechnete, ist der Tod doch überraschend eingetreten. Thoma war seit zwei Jahren gelähmt und konnte seinen Rollstuhl nicht mehr verlassen. Er ist sanft entschlafen.
Diese Drahtnachricht vom Vormittag wurde wohl in allen deutschen Tageszeitungen, sofern sie am Abend erschienen, wiedergegeben und in den darauffolgenden Tagen mehr oder weniger ausführlich kommentiert und durch Nachrufe begleitet. Thoma galt auch in den meinungsbildenden Kreisen Nordschleswigs vielen als bedeutendster Künstler der Zeit, nicht etwa Liebermann, Slevogt, Corinth, denn Thoma war bis zum Tod auch politisch auf ihrer Linie. Man muss bedenken, dass die Arbeiten Emil Noldes oder Christian Rohlfs, etwa in der „Heimat“, dem Organ des Heimatbundes, noch um 1924 verhöhnt und verlacht wurden. Auch unsere Zeitung wusste am Montag im Ton der Zeit dies über Thoma zu berichten: „Hans Thoma, der große deutsche Mal-Träumer, in dessen Seele die Seele des deutschen Volksliedes, des deutschen Waldes lebte, hat seine müden 85-jährigen Augen für immer geschlossen. Am 2. Oktober war er in sein 86. Lebensjahr hineiengeschritten, zufrieden mit der Wandlung der Welt, die er nicht mehr begriff. Dieser schwarzwälder Bauernbub hat seinen Deutschen ein vorbildliches Leben gelebt. Aus eigener Kraft hat er sich emporgearbeitet, von Stufe zu Stufe, von Höhe zu Höhe, bis er oben stand, hoch oben über Missverstand, Neid und Niedertracht und lächelnd, ein guter Weiser, um sich schauen konnte. (…) Deutsch war seine Kunst, deutsch seine Ehrfurcht vor der Gotteswelt, deutsch sein tiefer, inniger Gottesglaube. Die Fülle seiner Werke ist Spiegel seiner adligen Seele, der Wahrheit über alles ging. Snobismus war diesem Künstler ebenso fern, wie er nichts wusste von Konzessionen an die Masse. Er war ein Echter. /Und darum wird sein Werk bleibenden Bestand haben, solange die Tannen im Schwarzwald ragen.“
Donnerstag, 13. November 1924
Flensburg. Am Sonntag, den 16. November wird der bekannte Literarhistoriker, Prof. Gundolf-Heidelberg, hier einen Vortrag halten über die Gestalt Caesars bei Shakespeare. Der Vortrag findet um 12 Uhr in der Aula des Oberlyceums statt. Er wird veranstaltet von der Flensburger Ortsgruppe der Schleswig-Holsteinischen Universitäts-Gesellschaft.
Ein Hauch von Weltliteratur durchweht auch gelegentlich die Provinz. Friedrich Gundolf, damals als Mitglied des George-Kreises gerade ausgeschieden, einflussreicher Lehrer und Autor, sprach über Caesar bei Shakespeare. Es muss für die Hörerinnen und Hörer in Flensburg ein Ereignis in ihrem Leben gewesen sein. Wir dürfen vermuten, dass einige seiner zahlreichen Schriften auch in interessierten Kreisen Nordschleswigs bekannt waren und gelesen wurden (vgl. Abb.). Als Germanist wirkte er weit über die Fachgrenzen hinaus. Seine Romantik-Vorlesungen in Heidelberg waren ein gesellschaftliches Muss. Keiner seiner Fachkollegen erreichte mit seinen Schriften so hohe Auflagen wie er.
Sonnabend, 15. November 1924
„Zar“ Kyrill ernennt einen Gesandten in Paris
Großfürst Kyrill, der sich als Zar aller Reußen ausgerufen hat, ernannte gleichzeitig mit der jetzt von Frankreich anerkannten Sowjet-Regierung meinen Gesandten in Paris: Großfürst Dimitri Paulowitsch, der an der Ermordung des Beichtvaters Rasputin beteiligt gewesen ist. Die in Kopenhagen wohnende Zarinwitwe Dagmar will bekanntlich Kyrill nicht als Zaren anerkennen.
Die selbst ernannten Aspiranten auf den Zarenthron waren damals zahlreich. Kyrill war von ihnen der erfolgreichste. Dergleichen „Vermischtes“ aus der Politik-Sparte war in den Spalten der Zeitungen gern gesehen, weil das zugleich auch einem Unterhaltungsbedürfnis der Leserschaft nachkam. Auch die damals in Mode gewesenen illustrierten Satire-Blätter, die es heute leider nicht mehr gibt, nahmen sich der Sache an, wie die Karikatur von Alois Florath mit der Unterschrift „Arbeitslosen-Demonstration?“ – „Iwo! Was Sie hier sehen, ist eine Konferenz der russischen Thron-Anwärter!“, die Karikatur stammt aus der Zeitschrift „Lachen links“. Das Blatt war der Nachfolger des berühmten „Wahren Jakob“ der Sozialdemokratischen Partei, das wegen der Inflation 1923 eingestellt werden musste. Dass das Blatt in den Redaktionsräumen der deutschen Zeitungen in Nordschleswig gelesen wurde, ist nicht anzunehmen.
Montag, 24. November 1924
Hadersleben. Die Kirche von Vonsild feiert am 5. Dezember ihr 100-jähriges Jubiläum. Ihr Erbauer ist C. F. Hansen, der Schöpfer der Frauenkirche in Kopenhagen, deren verkleinertes Abbild die Kirche in Vonsild ist. Vonsild ist eine der „acht Gemeinden“, die zwar zum alten Herzogtum gehören, aber im Jahre 1864 Dänemark überlassen wurden, um die Koldinger Förde ungeteilt bei Dänemark zu lassen.
Freitag, 28. November 1924
Pompöses Leichenbegängnis eines Verbrechers in Chicago
Das Leichenbegängnis eines vor einigen Tagen von italienischen Banditen erschossenen Whisky-Schmugglers Dean Obanion gestaltete sich zu einem der pompösesten, die Chicago je gesehen hat. Die verschiedenen Verbrecherkolonien hatten, um an der Feier teilnehmen zu können, einen Waffenstillstand abgeschlossen. Obanion war sowohl als König der Schmuggler, als auch der Verbrecher allgemein bekannt. Die Leiche war drei Tage lang aufgebahrt. Der Sarg, in dem der Schmuggler lag, hat 10.000 Dollar gekostet. Unglaubliche Mengen von Orchideen und Rosen waren rings herum aufgeschichtet. Eine kurze Leichenfeier, an der sich etwa 300 Verbrecher beteiligten, wurde im Trauerhause abgehalten. Entblößten Hauptes standen diese Leute, die sonst Todfeinde sind, zusammen und lauschten dem Ave Maria, gespielt von einem der besten Symphonie-Orchester der Stadt. 150 Limousinen folgten dem Sarge zum Friedhof, besetzt mit notorischen Verbrechern der Chicagoer Unterwelt. Tausende von Neugierigen bildeten Spalier und die Polizei hatte Mühe, die reibungslose Abwicklung des Verkehrs aufrechtzuerhalten.
Die Al-Capone-Mythologie hat in den vergangenen Jahrzehnten die ungezählten damaligen Morde usw. verharmlost und in eine rosafarbene Bonny-and-Clyde-Erzählung überführt. Man denke dabei ebenso an Szenen in dem Filmklassiker „Manche mögen’s heiß“. Auch im obigen Text erliegt man leicht diesem gefährlichen Faszinosum. Über das pompöse Ereignis von 1924 berichteten damals alle Zeitungen rund um die Welt, manche mit schlechtem Gewissen heimlich bewundernd, manche jedoch auch deutlich angewidert. Der Bericht unserer Zeitung neigt eher zum Ersteren.
Sonnabend, 29. November 1924
Apenrade. Alfred Nagel, früher Redaktionsleiter der „Apenrader Zeitung“, zuletzt Chefredakteur des linksvolksparteilichen „Hamburger Correspondenten“, übernimmt Anfang nächsten Monats die Chefredaktion der „Kieler Zeitung“. Das Blatt, das durch den vorigen Chefredakteur Prof. Herrmann in ein stark linksdemokratisches Fahrwasser geleitet war, wird also eine Schwenkung nach rechts vornehmen.
Wer politisch weit rechts steht, wie die deutschsprachigen Zeitungen in Nordschleswig zur damaligen Zeit, hat natürlich einen eingeschränkten und verstellten Blick auf seine Nachbarn: Alfred Herrmann war Mitglied der DDP, der Deutschen Demokratischen Partei, als solcher war er Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Er las an der Kieler Universität und war Hauptschriftleiter und Verlagsdirektor der „Kieler Zeitung“, jener liberalen Zeitung, die einstmals von Wilhelm Ahlmann, dem aus Nordschleswig stammenden Kieler Politiker und Bankier gegründet worden war. „Stark linksdemokratisch“ ist eher diffamierend, die Zeitung war seit ihren Anfängen unter Ahlmann linksliberal, wie die DDP. Der „Hamburgische Correspondent“ vertrat den Standpunkt der DVP, der Partei Stresemanns, die ebenso mit „linksvolksparteilich“ nicht richtig eingeschätzt ist.
Alfred Nagel war 1903/04 Redakteur (damals noch Alfried Nagel) bei der „Apenrader Zeitung“. Das Blatt erschien seit 1877 und war zunächst ein Unterhaltungsblatt, das nicht täglich erschien. Bis es im Oktober 1903 vom Apenrader Reeder Jebsen, dem Senator Lorenzen und Dr. Wiener erworben und nationalliberal mit Tendenz zu den Alldeutschen auf Kurs gebracht wurde. Nagel verließ dann das Blatt, als es am 30. Juni 1906 mit dem „Neuen Apenrader Anzeiger“ zusammengelegt wurde und am 1. Juli mit der Nr. 1 als „Apenrader Tageblatt“ erschien. Hauptredakteur wurde Dr. Julius Kähler (1873-1952), der sich auch nach der Zusammenlegung der vier deutschsprachigen Zeitungen Nordschleswigs im Jahre 1929 zur „Nordschleswigschen Zeitung“ als baldiger Parteigänger nationalsozialistischen Gedankenguts vernehmen ließ. In dieser Zeit betätigte sich Nagel als Redakteur mehr als Marinehistoriker und schrieb einige Monografien über die Schicksale von Schiffern der Kaiserlichen Marine usw. Nachzutragen ist vielleicht noch, dass Nagel, nachdem er vor 100 Jahren, 1924, von Hamburg zur „Kieler Zeitung“ wechselte, seinen Hamburger Posten Rudolf Michael (1890-1980) überließ, der nach dem Krieg die Bild-Zeitung Axel Springers – Michael war von 1952 bis 1958 ihr Chefredakteur – zu Millionenauflagen verhalf.
Montag, 4. November 1974
Schriftsteller K. Becker gestorben
Der Schriftsteller Knuth Becker ist dieser Tage im Alter von 81 Jahren gestorben. Becker galt als einer der bedeutendsten dänischen Autoren unseres Jahrhunderts, obwohl er durch seine zurückhaltende Art von der Presse kaum beachtet wurde. Am 31. Januar 1891 wurde er in Hjørring als Sohn eines Kleinhändlers geboren. Schon in seinen jungen Jahren begann er zu dichten und gab bereits 1916 die Anthologie „Digte“ heraus. Seinen eigentlichen Durchbruch schaffte Knuth Becker jedoch als Prosaist mit seinem Roman „Det daglige Brød“ im Jahre 1932, der eine monumentale Romanserie einleitete: „Verden venter“, „Urolig forår“, „Når toget kører“, „Marianne“ u. a. Mit Wärme und Humor schildert er kritisch soziale Verhaltensweisen in einer Welt, die mit ihren Outsidern nicht zurechtkommt. Zahlreiche Preise und Legate erhielt er, darunter 1961 den Literaturpreis der dänischen Akademie über 50.000 Kronen. Eines seiner letzten Werke war das Buch „Ferie fra hverdagen“, das gesammelte Skizzen eines Urlaubs in Skagen umfasst.
Knuth Becker (1891-1974) wurde schlagartig bekannt durch seinen Roman „Det daglige Brød“, der in schwieriger Zeit 1932 erstmals erschien. Es ist ein autobiografisch inspirierter Entwicklungsroman, das das Leben des jungen Kai Gøtsche schildert. Es steht deutlich in der Tradition der dänischen Entwicklungsromane, etwa Pontoppidans „Lykke Peer“ oder Andersen-Nexös „Pelle“. Der Roman stellt den Beginn eines sozialpsychologischen Panoramas des 20. Jahrhunderts dar, abgeschlossen wurde der Zyklus nicht.
Es folgten auf den Roman von 1932 „Verden venter“ (1934) – die weiteren vgl. oben – bis „Marianne“ (1956). In Deutschland erschien als einziger Roman „Det daglige Brød“ – der bedeutendste des Zyklus – im Jahre 1948 im Hamburger Literaturverlag (einem der ersten, der die Lizenz von den britischen Besatzungsbehörden erhielt) unter dem Titel „Das tägliche Brot“. Die anderen Bände sollten folgen, der verlegerische Erfolg des Bandes blieb aber aus, kein Nachfolgeband erschien. In der DDR gab der für die dänische Literatur so verdienstvolle Hinstorff-Verlag in Rostock „Det daglige Brød“ im Jahre 1972 neu und in neuer Übersetzung heraus. Allerdings wohl wegen des Anklangs an die Vierte Bitte des Vaterunser unter dem unverdächtigeren aber nichtssagenden Titel „Haus Seelandsfreude“.
Bevor wir schließen, wollen wir aber doch einen überraschenden Fund mitteilen, die deutsche Rezension zur dänischen Erstausgabe von 1932 – aus dem „Hamburger Fremdenblatt“, einem der führenden deutschen Tageszeitungen damals, vom 8. Oktober 1932. (Über die Zeitung schrieb A. Herrmann, dem wir unter dem 24. November 1924 begegnet sind, eine über 600-seitige Monografie!) die Romankritik ist es wert, hier wiedergegeben zu werden: „Det daglige Brød“ von dem jungen dänischen Schriftsteller Knuth Becker hinterlässt den Eindruck einer außerordentlichen künstlerischen Intensität. Ich erinnere mich nicht, jemals eine so konsequente und echte Darstellung des Kindes in seinem hoffnungslosen Kampf gegen die Welt der Erwachsenen gelesen zu haben. Das Buch ist nichts anderes als eine endlose Kette alltäglicher Ereignisse: Hunger, Kälte, Krankheit, Tod, Tag und Nacht; aber aus tausend fast unmerklichen Variationen derselben banalen Ereignisse entsteht das erschütternde Bild des kleinen Kai, der in seinem naiven Triebegoismus die bescheidene Weisheit seiner Erzieher zunichtemacht, jeden Tag von Neuem den Mut findet, sich zwischen Essen und Prügeln, Prügeln und Essen hindurchzuwinden, und der, während die Familie in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg sieht, als ihn weinend in die Erziehungsanstalt zu stecken, mit strahlenden Augen, sich brüstend in seinem neuen Zeug, seinem harten und ungewissen Geschick entgegengeht, zitternd vor Aufregung in dieses erste große Abenteuer seines Lebens hineinfährt.“