Vor 100 und vor 50 Jahren

Chronik: 300 Jahre Postwesen, 60 Jahre Petersen-Röm

Chronik: 300 Jahre Postwesen, 60 Jahre Petersen-Röm

Chronik: 300 Jahre Postwesen, 60 Jahre Petersen-Röm

Jürgen Ostwald
Jürgen Ostwald Freier Mitarbeiter
Nordschleswig
Zuletzt aktualisiert um:
Das Arbeitszimmer der Marie Luise Kaschnitz in Frankfurt/Main. Die Dichterin starb am 10. Oktober 1974, ein Nachruf erschien im „Nordschleswiger“ zwei Tage darauf. Foto: Marbacher Magazin 95/2001, Deutsches Literatur-Archiv

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Die Schlagzeilen von diesem Oktober sind ganz anders als noch vor 100 und vor 50 Jahren. Jürgen Ostwald hat im Archiv die Zeitungen durchforstet und nimmt die Leserinnen und Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit.

Foto: DN

Mittwoch, 1. Oktober 1924
32.400 Privat-Autos in Dänemark
Nach dem Verzeichnis der Automobil-Besitzer sind in Dänemark 32.400 Autos polizeilich eingetragen, d. h. je 100 Einwohner des Landes ein Auto.

Diese glücklichen Zeiten sind längst vorüber. Zu Beginn des Jahres 2024 waren in Dänemark 2.830.000 Fahrzeuge zugelassen. Somit kommt heute bei rund 5,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ungefähr auf jeden zweiten ein Auto.

Donnerstag, 2. Oktober 1924
Dienstjubiläum bei der Zeitung in Apenrade
Sein 25-jähriges Berufsjubiläum als Schriftleiter beging gestern Herr Redakteur Chr. Jessen. Herr Jessen ist in Broacker am 29. September 1857 geboren und genoss seine Schulbildung in Privat- und höheren Schulen, übernahm danach den väterlichen Hof in Broacker und war dort eine Reihe von Jahren Amtsvorsteher des Amtsbezirks Broacker. Als solcher war er durch seine Zuvorkommenheit und Gerechtigkeit beliebt und geschätzt von allen Schichten der Bevölkerung. Als er nach einer Reihe von Jahren den väterlichen Hof verkaufte, übernahm er den Hof seines Schwiegervaters in Arsleben (Aarslev)  bis er am 1. Oktober 1899 als Schriftleiter bei dem „Neuen Apenrader Anzeiger“ des Herrn Janke eintrat. In dieser Stellung wirkte Herr Jessen, bis 1906 alle deutschen Zeitungen in Apenrade in das neugegründete „Apenrader Tageblatt“ aufgingen, dem er nun seit dessen Bestehen angehört.

Das Dienstjubiläum Christian Jessens ist Anlass, die Zeitungen näher zu betrachten, für die der Jubilar einst tätig war.

Freitag, 3. Oktober 1924
Einweihung der deutschen höheren Schule zu Sonderburg
Auf Einladung des Vereins „Deutsche höhere Schule Sonderburg“ hatte sich gestern Nachmittag eine stattliche Versammlung im „Haus Adalbert“ eingefunden zur Einweihungsfeier der neuen deutschen höheren Privatschule. Herr Dr. Wernich als Vorsitzender des Vereins entbot den Erschienenen einen Willkommensgruß. Der Gesang des Chorals „Lobe den Herrn“ leitete die Feier ein. Herr Dr. Schmidt, der Leiter der neuen Schule, verlas den 103. Psalm, und der Chor der Schülerinnen sang unter Leitung seines tüchtigen Gesangslehrers Herrn Sprenger, „Wir, Herr, sei Lob und Preis“. Darauf folgte der Vortrag des Gedichts „Muttersprache“ von Max von Schenkendorf durch eine Schülerin. Das Largo von Händel, von zwei Geigen mit Harmoniumbegleitung stimmungsvoll wiedergegeben, beschloss die Andacht und leitete über zu den Ansprachen.

Freitag, 3. Oktober 1924

Anzeige in der „Sonderburger Zeitung“ Foto: Königliche Bibliothek, Kopenhagen

Mittwoch, 8. Oktober 1924
Deutsche Eigenbrödler für die Gewaltgrenze
Professor Quidde, der vor einiger Zeit wegen Verdachts des Landesverrats verhaftet war und gegen den, soweit wir wissen, das diesbezügliche Verfahren noch schwebt, hat aus dem „Weltfriedenskongress“ der dänischen Delegation erklärt, „das Verhältnis zwischen Dänemark und Deutschland ist durch die neue Grenze auf die beste Weise geordnet worden, und es wird leicht sein, die noch bestehenden Schwierigkeiten zu ordnen.“ Professor Quidde genießt, so das  „Apenrader Tageblatt“, ein gewisses Ansehen im Auslande, weil er dessen Geschäfte auf Kosten seines eigenen Vaterlandes zu besorgen liebt. Von den nordschleswigschen Verhältnissen hat er natürlich keine Ahnung. In einer uns unbekannten Zeitschrift „Die Brücke“, die offizielles Organ der deutschen Friedensgesellschaft, Arbeitsgemeinschaft Schleswig-Holstein, sein soll, hat ein Kaufmann A. Andresen in Flensburg ebenfalls sich über die neue Grenze geäußert und erklärt, niemals sei eine glücklichere Grenze gezogen worden als die von 1920. Ob Herr A. Andresen in Flensburg ein Däne ist, wissen wir nicht, wir vermuten es aber. Auf jeden Fall beweist er durch seine Äußerung, welch sonderbare Käuze es in der „Friedensgesellschaft“ gibt.

Der Historiker und Politiker Ludwig Quidde (1858-1941) war 1894 auf einen Schlag mit dem Buch „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahn“ bekannt geworden, in dem damals jeder kundige Leser und jede kundige Leserin ein Porträt Kaiser Wilhelms zu entdecken meinte, das in der deutschen Publizistik auch so behandelt wurde  (auch in Nordschleswig!) und das in der dänischen Presse ebenfalls ihren Niederschlag fand. Von 1914 bis 1929 war Quidde Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft. Fast jede Äußerung Quiddes zum Frieden und zur Grenzfrage im Norden – beide Themen waren den herrschenden Auffassungen in Nordschleswig diametral entgegengesetzt – wurde sogleich von der deutschen Zeitung in Dänemark aufgespießt und kommentiert. 

„Die Brücke“ war ein auflagenschwaches, aber ehrgeiziges kleines Kulturmagazin, das auch nur von Juni bis Dezember 1924 erschien und dann einging. Es hatte den Titel „Die Brücke. Halbmonatsschrift für Kultur und Politik. Offizielles Organ der Deutschen Friedensgesellschaft, Arbeitsgemeinschaft Schleswig-Holstein“ und erschien in Kiel.

Montag, 13. Oktober 1924
Niels Bukh in Halle
Wie dänische Blätter melden, ist der bekannte dänische Turnlehrer Niels Bukh mit seinen Schülern kürzlich in Halle aufgetreten. An den Aufführungen nahmen zwölf junge Männer und zwölf junge Mädchen teil. Ein zahlreiches Publikum wohnte den Aufführungen bei.

Der bekannte dänische Gymnastikreformer und Sportpolitiker Niels Bukh (1880-1950) stammte aus der Lebensreformbewegung der Jahre um 1900 und wurde mit den Jahren immer völkischer. Es wird von seinen Nachfolgern geschrieben, dass er sich 1933 zum Nationalsozialismus bekannte. Doch bereits 1923 und besonders 1924, als sich die Nationalsozialisten nach den Verboten im Zuge des Hitlerputsches neu organisierten, war er nicht nur Mitläufer, sondern unterstützte die völkisch-rassistischen Strömungen in Deutschland wie in Dänemark offensiv. So auch während seiner Deutschland-Aufenthalte in diesen Jahren. Sehr kundig unterrichtet der dänische Sporthistoriker Hans Bonde über diese Zusammenhänge in seinem zweibändigen Werk von 2001: „Niels Bukh. En politisk-ideologisk biografi“.

Dienstag, 14. Oktober 1924
Der Verein „Dänische Kirche im Ausland“ hielt in Kopenhagen seine Jahresversammlung ab, an der als Vertreter der Dänen südlich der Grenze Pastor Moos aus Flensburg teilnahm. Die Arbeit des Vereins erstreckt sich auf die Städte Flensburg, Berlin, Paris, Rio de Janeiro, Buenos Aires, Brisbane, Malmö und Stockholm.

In Berlin plante der Verein gerade einen architektonisch spektakulären Neubau, der allerdings nicht zustande kam.

Mittwoch, 22. Oktober 1924
Rundfunk-Meldung: Reichstagswahlen am 7. Dezember
Berlin. Amtlich wird bekanntgegeben, dass die Neuwahlen zum Reichstag auf den 7. Dezember festgesetzt sind.

Mittwoch, 29. Oktober 1924
Die Frauenkirche in Kopenhagen, deren hoher Turm ebenso wie der Nikolaikirche, bei dem Bombardement im Jahre 1807 von den Engländern zerstört wurde und seitdem nicht wieder aufgebaut ist, wird nun vielleicht einen neuen Turm erhalten. Der Carlsberg-Fond ist bereit, sofern die Gemeinde es wünscht, die Mittel für den Turm zur Verfügung zu stellen. Doch erheben sich auch Stimmen gegen den Turmbau.

Schon um 1913 hatte der bekannte Brauer und Mäzen Jacobsen den Vorschlag unterbreitet, den alten hohen Barockturm wieder zu errichten. Zum Glück kam das Vorhaben nicht zustande, sondern man einigte sich mehr als ein Jahrzehnt später auf den ursprünglichen Plan des Klassizisten und Erbauers der Kirche C. F. Hansen.

 

Donnerstag, 30. Oktober 1924
Das Postwesen in Schleswig-Holstein vor 300 Jahren
In diesem Herbst ist es dreihundert Jahre her, seit das Postwesen in Schleswig-Holstein gesetzlich geregelt wurde. Im Jahre 1624 wurden vom Staate die ersten drei regelmäßigen Postverbindungen in Schleswig-Holstein eingerichtet, die alle ihren Ausgangspunkt in der nördlichsten Stadt des Herzogtums, Hadersleben, hatten. Die Hauptlinie führte damals von Hadersleben über Kiel und Itzehoe nach Hamburg. Man unterschied damals zwischen Fuß- und Reitpost. Kleine Strecken wurden zu Fuß und größere zu Pferde zurückgelegt. Der Postbote musste ein zuverlässiger Mann sein. Über alle Fährstellen sollte er freie Überfahrt haben. In den Städten, die er passierte, musste er selbst die Briefe an die Adressaten abliefern.

Die Taxe für einen einfachen Brief betrug von Flensburg bis nach Hamburg etwa 2 Schilling, von Kiel nach Flensburg etwa 1 ½ Schilling und von Hamburg nach Hadersleben etwa 7 Schilling. Der Postbote bekam von dem Briefgeld den dritten Teil als Lohn und wenn er keinen anderen bürgerlichen Erwerb hatte, wurde er in Friedenszeiten von allen Steuerlasten befreit. Über jeden Brief, den er erhielt und herausgab, musste er Buch führen. Kam der Postbote nach einer Stadt, in der sich keine Postmeisterei befand, so musste der Magistrat dem Postboten bei einem ehrenhaften und fleißigen Bürger Logis anweisen. Der Postmeister sollte ein ehrlicher und fleißiger Mann sein, der keinen anderen Erwerb ausüben durfte. 

Vor dem Hause des Postmeisters hing ein Schild mit einem blauen Reiter auf einem weißen Pferde. Bis zum Jahr 1653 unterstand das Postwesen dem Staate. Dann wurde es Paul von Klingenberg übertragen, der es ganz bis zum Jahre 1685 verwaltete. Klingenberg war ein sehr smarter Geschäftsmann. Er ließ sich nicht nur eine große Anzahl neuer Postkontore in Schleswig-Holstein einrichten, sondern übernahm auch den Vertrieb der überall in unserer Heimat erscheinenden Wochenblätter, die die einzelnen Postmeister in ihren Bezirken verteilten. Hierdurch wurden die Postkontore zu Neuigkeitszentren und bei Eintreffen der Post Sammelstätte aller politisch interessierten Kreise. Im Jahre 1685 übernahm Graf Christian Gyldenlöwe das Postwesen. Er verblieb bis zum Jahre 1711 im Amt, zu welchem Zeitpunkt es wieder vom Staate übernommen wurde.

Bis auf Einzelheiten stimmt dieser kleine Rückblick. Wer Genaueres wissen will, greife zur grundlegenden Geschichte unseres Postwesens, die vom Generaldirektoratet for Post- og Telegrafvæsenet herausgegeben und von Otto Madsen unter dem Titel „Et nyttigt og gavnligt postværk“ 1991 publiziert wurde. Madsen, der übrigens als Architekturhistoriker auch eine bauhistorische Untersuchung über Brundlund Slot verfasst hat, behandelt dort das Postwesen des 17. Jahrhunderts (bis 1711).

 
Foto: DN

Freitag, 11. Oktober 1974
Andreas Petersen-Röm 60
Zum 60. Geburtstag des Malers Andreas Petersen-Röm gab es im „Nordschleswiger“ einen größeren Beitrag. Gemälde des Malers hängen in zahlreichen Häusern und Wohnungen Nordschleswigs. Ausstellungen haben auf sein Werk hingewiesen. Die Apenrader Artothek hält Werke zum Ausleihen bereit. Wir geben hier einen Teil des frischen privaten Geburtstags-Beitrags von Edith Wawerzyn-Lund wieder. Sie war von 1968 bis 1971 Volontärin beim „Nordschleswiger“ und bis 1973 in der Lokalredaktion in Apenrade tätig. 1974 arbeitete sie kurz in der Tonderner Lokalredaktion, um dann im Herbst nach Bremen überzusiedeln. „Drees“ Petersen-Röm wurde am 13. Oktober 1914 in Havneby auf Röm geboren und als Maler Autodidakt.

Petersen-Röm: Freilichtmalerei bei jedem Wetter Foto: Wikipedia/Nelp

Andreas Petersen malt mit der linken Hand. Die rechte verlor er im Krieg. Die Beherrschung der linken brachte er sich in Faarhus bei, wo er in Haft das Schicksal zahlreicher Nordschleswiger teilte. In über 100 Miniaturaquarellen übertrug er die Kunstfertigkeit der rechten auf die linke und mit dieser linken schuf er ein Werk nach dem anderen. Nicht, dass er irgendwann die Nase voll hatte. Nein, Andreas Petersen kann heute, mit 60, aus voller Überzeugung sagen: „Ich habe mehr und mehr Freude daran.“ 

Diese Freude am Malen, am Einfangen von Licht, von Wolken, von Landschaft (vornehmlich) der Westküste, hat ihn bekannt gemacht. „Touristen“, so erzählt er gern, „staunten meist zuallererst über meine Wolken. Solche Wolken könne es doch gar nicht geben, meinen sie. Und dann lernen sie die Insel kennen – und später hört man sie sagen: Das sind Andreas-Petersen-Wolken.“ Alle Kenner der Insel und der Westküste im allgemeinen wissen: So, wie Andreas Petersen die Landschaft einfängt, ist sie am urwüchsigsten, so trägt sie ihr Alltagsgesicht. 

Die Begeisterung des Vaters für die Kunst hat sich auch auf die fünf Kinder übertragen. Der älteste Sohn Karl Georg ist der einzige, der Vaters Traumberuf „übernahm“: Er fährt als Steuermann bei der Reederei Jebsen, Apenrade. Gerhardt ist Maler in Esbjerg, baut als Hobby alte Uhren und Schiffsmodelle nach, Andreas hat das Erbe seines Vaters als Malermeister angetreten und Finn, der Jüngste, besucht die Kunstgewerbeschule und hat eine lange Ausbildung vor sich. Kirsten, die einzige Tochter und ältestes der Kinder, ist „Smørrebrødsjomfru“ in Gedser, wo sie auch ihren Sinn für „Farben und Formen“ anwenden kann, grient der Vater. Andreas Petersen selbst ist in einer Geschwisterschar von elf aufgewachsen.

Sonnabend, 12. Oktober 1974
Der Humanität tief verbunden
Die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz ist am Donnerstag im Alter von 73 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben. Das Werk der bedeutenden deutschen Lyrikerin und Erzählerin ist der Humanität tief verbunden und wurzelt im antik-christlichen Erbe. Die Autorin selber hat Gratulationen und Ehrungen stets nur mit Zögern entgegengenommen und erklärt: „Ich gehöre nicht in die Reihe der wirklich Großen.“ Die Literarhistoriker werden ihr Werk dennoch hoch einstufen.

Ob die Literaturhistorikerinnen und -historiker sie hoch einstufen, kann uns gleich sein. Jedenfalls hat sie noch immer und mit Recht eine große Lesergemeinde. Zahlreiche Werke halten der Suhrkamp-Verlag und der Insel-Verlag im Buchhandel bereit.

In der kleinen Form gab Marie Luise Kaschnitz Meisterhaftes. So in „Orte. Aufzeichnungen“, ein Band, der ein Jahr vor ihrem Tod erstmals erschien. Sie gibt Ortsbeschreibungen, und das Ergebnis erfüllt Goethes Wort: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht.“ Sie selbst schreibt zu Beginn des Buches: „Hier steht, was mir eingefallen ist in den letzten Jahren, nicht der Reihe nach, vielmehr einmal dies, einmal das, und in eine Ordnung wollte ich es nicht bringen, obwohl doch das Leben seine Ordnung hat, seine Reihenfolge.“ Foto: Privat

Marie Luise Kaschnitz war mit dem Klassischen Archäologen Guido Kaschnitz-Weinberg verheiratet. Ihre strenge Lyrik und Prosa ist sehr autobiographisch orientiert und bei allem abendländisch-überzeitlichen doch aktuell. Sie erhielt 1955 den Georg-Büchner-Preis. Nach dem Tod ihres Mannes 1958 verstummte sie für einige Jahre. Aus Anlass ihres Todestages, der sich am 10. Oktober zum 50. Male jährt, geben wir hier eines ihrer Gedichte wieder, das allzu unbekannt ist. Es ist eines der schönsten Gedichte, die je eine Dichterin ihrem verstorbenen Ehemann gewidmet hat:

Wie du mir nötig bist? Wie Trank und Speise
Dem Hungernden, dem Frierenden das Kleid
Wie Schlaf dem Müden, Glanz der Meeresreise
Dem Eingeschlossenen, der nach Freiheit schreit.

So lieb ich dich. Wie dieser Erde Gaben
Salz, Brot und Wein und Licht und Windeswehen,
Die, ob wir sie auch bitter nötig haben,
Sich doch nicht allzeit von selbst verstehen.

Und tiefer noch. Denn auch die ungewissen
Und fernen Mächte, die man Gott genannt,
Sie drängen mir zu Herzen mit den Küssen.

Den Worten deines Mundes, und die Blüte
Irdischer Liebe nahm ich mir zum Pfand
Für eine Welt des Geistes und der Güte.

Donnersteg, 31. Oktober 1974
Dr. Anna Paulsen „Gold-Doktor“

Porträt Anna Paulsen Foto: Privat

Dr. Anna Paulsen (geb. 1893) promovierte vor 50 Jahren in Kiel mit einer Arbeit über das protestantische Schriftprinzip zum Lizentiaten der Theologie. Vorangegangen waren Studienjahre in Kiel, Tübingen, Münster und Berlin. 1921 wurde sie ins Burckhardt-Haus in Berlin berufen, um junge Frauen zum Gemeindedienst auszubilden. Diese bahnbrechende Tätigkeit für die Mitwirkung der Frau am Gemeindeleben fand nach dem Krieg ihre Fortsetzung, indem ihr das erste Frauenreferat der EKD übertragen wurde. Einem großen Leserkreis wurde sie durch ihre Bücher über Kierkegaard bekannt (1955: Kierkegaard. Deuter unserer Existenz; 1973: Menschen heute. Analysen der Reden Søren Kierkegaards). 1953 verlieh ihr die Theologische Fakultät in Kiel den Ehrendoktor.

Anna Paulsen wurde 1893 in Hoirup geboren. Ihr Vater war damals Pastor in Hoyer. Während ihrer Berliner Zeit war sie mit zahlreichen Theologen bekannt, so mit Paul Tillich oder Walter Künneth. Sie war mit Elly Heuss-Knapp befreundet, der Ehefrau des späteren deutschen Bundespräsidenten. Anna Paulsen starb 1981 in Heide. Ihr letztes Buch, „Der Mensch von heute vor der Gottesfrage“, erschien erst nach ihrem Tod.

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