Sonderburg-Flensburg
Tourbericht: In blauen Westen auf inklusiver Radfahrt durchs Grenzland
Tourbericht: In blauen Westen auf inklusiver Radfahrt durchs Grenzland
In blauen Westen auf inklusiver Radtour durchs Grenzland
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Frank Westphal von den inklusiven Werkstätten „Die Ostholsteiner“ organisiert seit mehreren Jahren Fahrradfreizeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen. In diesem Jahr war der Auftakt für eine mehrtägige Radreise der Møllestedgård bei Sonderburg (Sønderborg). „Der Nordschleswiger“ hat die Gruppe ein Stück des Weges begleitet.
Eine blaue Karawane hat am Montag die Blicke zahlreicher Menschen in Nordschleswig auf sich gezogen. Sie setzte sich am Vormittag in Sonderburg (Sønderborg) in Bewegung und zog durch Gravenstein (Gråsten) und Kollund bis nach Flensburg (Flensborg).
Die Karawane, das sind 16 Radfahrerinnen und Radfahrer in blauen Westen, die sich zu einer fünftägigen Radtour nach Eutin aufgemacht haben, die Grenzen überschreitet. An sich sind Radtouren nichts Besonderes, mögen einige vielleicht jetzt denken. Diese hier ist es. Denn zwölf der Mitfahrerinnen und Mitfahrer leben mit psychischen und geistigen Beeinträchtigungen und arbeiten bei den inklusiven Werkstätten „Die Ostholsteiner“ im Süden Schleswig-Holsteins. Das gemeinnützige Unternehmen vertritt die Interessen von Menschen mit Beeinträchtigung und ihr Recht auf Selbstbestimmung und eigene Lebensplanung. Mit von der Partie sind vier Betreuerinnen und Betreuer und ich, der die Gruppe als Journalist auf dieser ersten Etappe begleitet.
Austausch mit anderen Werkstätten
Früh an diesem Montag überqueren die Mitfahrenden mit zwei Transportern und einem Lkw die Grenze nach Dänemark. An Bord des Lastwagens sind die Pedelecs und das Gepäck. Auf der Radreise von Sonderburg zurück nach Eutin sollen unterwegs Halte bei den verschiedenen Werkstätten gemacht und neue Kontakte geknüpft werden – so der Plan.
Auch in Sonderburg steht ein Besuch des Møllestedgård auf der Halbinsel Kjär (Kjær) auf dem Programm. Der Hof beherbergt eine beschützte Werkstätte von SAABU (Sønderborg, Afklaring, Aktivitet, Beskæftigelse og Udvikling) – dem dänischen Gegenstück zu den inklusiven Einrichtungen südlich der Grenze. Hier arbeiten seit Sommer 2022 rund 50 Personen in den Werkstätten und in der Naturpflege auf der Halbinsel.
Anders als in Deutschland gehören die Werkstätten zur Kommune. Eine eigene Homepage gibt es nicht. Die Kontaktaufnahme sei daher auch etwas schwieriger gewesen, sagt Frank Westphal. Er ist in der Fertigungssteuerung der Eutiner Werkstätten tätig, koordiniert die Arbeiten und organisiert die sogenannten Fahrradfreizeiten.
Bereits die fünfte mehrtägige Tour
Doch was in den Sonderburger Werkstätten hergestellt wird und wer dort arbeitet, bleibt an diesem Tag im Verborgenen. Bei der Planung war nicht bedacht worden, dass der 5. Juni ein Feiertag in Dänemark ist. Zwar bleiben die Türen am Tag des Grundgesetzes (Grundlovsdag) verschlossen, doch dem Vorhaben tut das keinen Abbruch. Der Start auf dem Møllestedgård erfolgt bei guter Laune und strahlendem Sonnenschein. Die Vorfreude auf die erste Fahrradfreizeit seit der Corona-Pandemie ist bei einigen der Mitfahrenden immens.
Bereits seit einigen Jahren unternimmt Westphal solche Radtouren mit wechselnden Gruppenmitgliedern. Einige der heutigen Mitfahrerinnen und Mitfahrer sind schon bei früheren Touren nach Kopenhagen oder Stralsund dabei gewesen. „Das ist unsere fünfte Fahrradtour. Das machen wir mit unseren Leuten mit Beeinträchtigungen. Das ist eine super Sache, weil sie normalerweise nicht loskommen und das nicht selbstständig machen können.“ Es sei die erste Tour mit Sack und Pack, also ohne Begleitbus, sagt Westphal. „Es macht immer wahnsinnig Spaß, weil man die Leute auch von einer anderen Seite kennenlernt.“
Das ist unsere fünfte Fahrradtour. Das machen wir mit unseren Leuten mit Beeinträchtigungen. Das ist eine super Sache, weil sie normalerweise nicht loskommen und das nicht selbstständig machen können.
Frank Westphal, Die Ostholsteiner
Fahrradexperte in der Gruppe
Nachdem ich mich als Exot in der Runde vorgestellt habe, werden die Räder abgeladen, das Gepäck verstaut und mehrere Ladungen Sonnencreme aufgetragen. Danach geht es mit gemächlichem Tempo und Musik aus der Hörbox zunächst in Richtung Hafen und Schloss, wo das zweite Gruppenfoto des Tages entsteht.
Zuvor gibt es nach wenigen Hundert Metern ein erstes kleines Problem an einem der Räder. Ein Reifen verliert Luft. Doch unter den Mifahrenden ist glücklicherweise ein Experte. Heiko arbeitet seit dreieinhalb Jahren bei einem Fahrradladen in Malente. Der 41-Jährige hat einen sogenannten Außenarbeitsplatz außerhalb der Werkstätten und hat den Job nach einem Praktikum bekommen. Er habe keinen Schulabschluss und keine Ausbildung, sagt er. „Ich habe einen gewissen Kenntnisstand. Die Basics kann ich inzwischen, und die Fehlersuche hab ich drauf.“ Nur mit der E-Bike-Technik kenne er sich noch nicht so aus. Das Problem kurz nach dem Start findet er aber schnell. Offenbar war der Ventileinsatz nicht richtig festgeschraubt. Es wird nachgepumpt, dann kann es nach kurzer Zeit weitergehen.
Für Heiko ist es die dritte Auslandstour. Dabei sollte er ursprünglich gar nicht mitfahren. Er sprang ein, weil ein anderer Teilnehmer nicht mitkommen konnte. „Ich hatte sofort Lust, Radfahren ist meine Leidenschaft.“
Die blauen Westen mit den Namen der Mitfahrenden hat der Fahrradladen gesponsert, in dem Heiko arbeitet. Der Druck erfolgte in einer der Werkstätten in Lübeck.
Erfahrene und unerfahrene Mitfahrende
Von Sonderburg geht es nach einer Wartezeit an der Klappbrücke zunächst bergauf nach Düppel (Dybbøl), wo sich trotz Pedelec schnell die Spreu vom Weizen trennt und die Gruppe nicht zusammenbleibt. Bei schönster Aussicht wird auf die Nachzüglerinnen und Nachzügler gewartet. Es gibt daraufhin noch einmal eine kurze Einweisung für diejenigen, die bisher noch keine Erfahrung mit den elektrischen Fahrrädern haben. Welcher Gang und welche Unterstützungsstufe an Steigungen am besten funktionieren, erklärt Heiko ein paar Neulingen. Denn ein paar Höhenmeter warten bis nach Flensburg noch auf uns.
Eine, die bisher noch nicht bei einer Fahrradfreizeit dabei war, ist Katrin. Die 21-Jährige arbeitet in der Verpackung der Eutiner Werkstätten und wollte es einfach ausprobieren, erzählt sie mir beim Warten. „Bisher gefällt es mir sehr gut. Ich könnte mir vorstellen, wieder mitzufahren.“ Sie ist mit ihrem Kollegen Nils dabei, der in der Stanzerei arbeitet, wie er berichtet. Beide kennen sich schon länger.
Die Jüngste ist Katrin allerdings nicht. Kevin ist 20 und hat, wie Heiko, ebenfalls einen Außenarbeitsplatz. Er arbeitet im „Scandy“. Das ist der Geschenkeladen der Werkstatt für angepasste Arbeit Eutin. Direkt im Zentrum der Stadt werden im Shop verschiedene skandinavische Waren angeboten – von Lakritzstangen aus dem dänischen Løkken bis zu Lederwaren und Flickenteppichen aus einer Werkstatt in Schweden. In der eigenen Kerzenwerkstatt stellen Menschen Kerzen aller Art her, die ebenfalls im Laden verkauft werden. Frank Westphal hat das Geschäft damals mit aufgebaut und betreut heute unter anderem den Webshop.
Große Altersunterschiede
Kevin arbeitet bei „Scandy“ in der Produktion, im Lager, im Verkauf und macht mittlerweile auch die Kassenabrechnungen. Er war sofort begeistert, als er von der Tour hörte. „Ich fahre Fahrrad seit ich klein bin und war sogar schon im Grand Canyon Rad fahren“, sagt Kevin, der seit 14 Jahren Diabetiker ist. Sorgen, er könnte auf der Tour unterzuckern, hat er nicht. „Mein Langzeitwert ist gut, und meine Eltern bekommen meine Zuckerwerte digital aufs Handy gesendet. Am liebsten wäre er ohne Pedelec die Tour angegangen, sagt der 20-Jährige, während es die Rampe zur Düppeler Schanze hinaufgeht. „Ich durfte aber nicht.“ In seiner Freizeit fährt er Downhill. Dabei saust man mit einem Mountainbike möglichst schnell vom Berg steile Pfade hinab ins Tal. Kein Wunder, dass ihn die Steigung nicht aus der Puste bringt.
Später könnte er sich schon vorstellen, woanders zu arbeiten, sagt er. Die Arbeit mit Menschen reize ihn. „In der Kita oder auch in der Pflege, das würde mich interessieren.“
Die beiden ältesten Mitfahrerinnen sind Corinna und Elke. Beide sind bereits über 60 und damit dreimal so alt wie Kevin. Sie waren bislang bei allen Touren dabei. „Es bringt Spaß und Freude“, sagen sie unisono. Auf ein Foto wollen die beiden nicht.
Trotz der Altersunterschiede harmoniert die Truppe. Viele kennen sich seit vielen Jahren durch die Arbeit oder die gemeinsamen Radfahrten. Die Route führt uns weiter in Richtung Gravenstein (Gråsten), wo die erste große Pause im königlichen Küchengarten ansteht. Die vier Betreuerinnen und Betreuer, Christel Storm, Birgit Blunck, Michael Rosburg und Frank Westphal, schleppen Tablett um Tablett mit belegten Brötchen aus dem kleinen Café, das von einer Gruppe Menschen mit psychischer Beeinträchtigung bewirtschaftet wird. Während die Brötchen mit Hähnchen gefragt sind, wird beim Lachsbrötchen die Nase gerümpft. Die Überbleibsel werden für später mitgenommen.
Wir fallen auf. Eine Reisegruppe aus Deutschland kommt mit einigen meiner Mitfahrerinnen und Mitfahrern ins Gespräch. Es geht um E-Bikes und den Ukraine-Krieg. Tatsächlich vergesse ich in manchen Momenten während der Tour, dass hier Menschen mitfahren, die ohne die Hilfe der Betreuerinnen und Betreuer Schwierigkeiten hätten, ihr Leben allein zu managen. Menschen, die glücklich scheinen, hier und heute dabei zu sein und die auf mich zukommen, um mir etwas über sich zu erzählen. So wie Gerd, der mir von seinen Urlauben an der Ostsee berichtet.
Es ist eine sinnvolle Arbeit, es kann mir nicht viel passieren. Ich habe einen sicheren Job und bekomme irgendwann eine sichere Rente.
Mitfahrer Torben
Debatte um Werkstätten
Die Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigungen werden seit Jahren kritisiert, unter anderem weil die Beschäftigung dort das Gegenteil von Inklusion sei, die Menschen keinen Mindestlohn erhalten würden und nicht als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten. Außerdem sei die Vermittlungsquote in den ersten Arbeitsmarkt gering, und es gebe viele Barrieren. Auch von Ausbeutung ist die Rede. In der Debatte gibt es verschiedene Meinungen, ob und wie das Konzept der inklusiven Werkstätten verändert werden muss.
Torben, für den die Tour seine erste Fahrradfreizeit ist, hat dazu eine eigene Meinung, ohne dass ich ihn dazu gefragt hätte. Er arbeite seit 25 Jahren in der Papierstanzerei und findet, die Werkstätten seien „eine super Sache“. „Es ist eine sinnvolle Arbeit, es kann mir nicht viel passieren. Ich habe einen sicheren Job und bekomme irgendwann eine sichere Rente.“
Auch Bernd wirkt sehr zufrieden mit seiner Arbeit in den Werkstätten. Er reinigt in Eutin unter anderem Maschinenteile für die Garnspinnerei in Malente. Für ihn ist es die dritte Fahrradtour – nach Kopenhagen und der Elbfreizeit. Schon am Start jubelte er voller Vorfreude auf die kommenden Tage. „Das Fahrrad ist ein tolles Fahrzeug und in vielen Dingen besser als ein Auto“, sagt er. Er fährt ein älteres Pedelec, für das Frank Westphal ein fast antikes Ladegerät in seiner Fahrradtasche transportiert. Zehn Jahre halte der Akku bereits, sagt Bernd stolz über sein Rad, das ihm ein Stück Freiheit bietet.
Das Fahrrad ist ein tolles Fahrzeug und in vielen Dingen besser als ein Auto.
Mitfahrer Bernd
Viel Humor und Entertainment
Nach einem kurzen Zwischenstopp im Schlossgarten geht es weiter in Richtung Annies Kiosk in Süderhaff (Sønderhav), wo der berühmte Hot Dog, die Aussicht auf die Flensburger Förde und die Ochseninseln auf die Radgruppe warten.
Zwischendurch legen die Betreuerinnen und Betreuer immer wieder kurze Stopps ein, damit die Gruppe zusammenbleibt, kurz getrunken werden kann und Kreuzungen sicher passiert werden können. Langweilig werde es auf so einer Fahrt nie, sagt Birgit Blunck, die als Betreuerin dabei ist. Das liegt auch an der gelockerten Stimmung und einigen Mitfahrenden, die mit Witz und Charme zu unterhalten wissen. Manchmal laut und derb, dann wieder ernster.
So auch Thorsten, der seine Arbeit im Lager erklärt: „Ich verpacke Eisenbügel für Einmachgläser. Immer zehn pro Tüte, dann in einen Karton und wieder von vorne. Auch Bücher kleben mache ich. All so'n Scheiß halt“, sagt er und lacht. Birgit Blunck warnt noch, dass das jetzt in die Zeitung kommt. Ja, kommt es.
Weil die Zeit mittlerweile drängt, muss ich die Gruppe leider in Rinkenis (Rinkenæs) verlassen und vorfahren. Gerne wäre ich bis zum Schluss mitgefahren, denn die Tour und die Gespräche sind für mich eine Bereicherung. Wieder zeigt sich, Radfahren verbindet. Zum Abschied bekomme ich Applaus von der Runde.
Treffen mit Aminata Touré
Für die 16 Ostholsteinerinnen und Ostholsteiner führt die Strecke schließlich am Flensburger Hafen entlang bis zum Hostel, wo sie die Nacht verbringen und die Akkus der 16 Räder laden. Denn schon am Dienstagmorgen steht der Besuch der Mürwiker Werkstätten auf der Agenda. Danach geht es weiter über Kappeln, Eckernförde und Kiel nach Eutin − jeweils mit Besuchen in den dortigen Werkstätten. „Am Freitag machen wir dann in Kiel noch Zwischenstation am Sozialministerium, wo wir ein Gruppenfoto mit unserer Sozialministerin Aminata Touré machen wollen“, so Westphal.
Am Ende wird die blaue Weste für jeden der Teilnehmenden eine Erinnerung an diese gemeinsame Tour sein. Ich wünsche ihnen, dass viele folgen mögen.