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Fußball-politischer Exkurs mit Dank an Sepp: „Nordschleswiger“-Geheimnis um das runde Leder

Fußball-politischer Exkurs mit Dank an Sepp

Fußball-politischer Exkurs mit Dank an Sepp

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Piontek und von Weizsäcker Foto: Archiv

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Ex-Sport- und Chefredakteur Siegfried Matlok lädt ein zur Reise in die Fußballvergangenheit: Von Fußball-Kameraden 1920 trotz nationaler Kluft, Bundesliga-Haar, wie von Weizsäcker bei der Minderheit in Tingleff Piontek begrüßte, wie Uffe Ellemann Bundeskanzler Kohl ärgerte, wie das „Nordschleswiger“-WM-Plakat ankam und eine EM-Prognose von Fußball-Expertin Lykke Friis.

In Deutschland ist Fußball Volkssport Nummer eins, aber man kann sich schon darüber wundern, dass der Fußball – jedenfalls nach außen hin – in der Geschichte der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig nie eine Rolle gespielt hat. 

Es gab niemals einen deutsch-nordschleswigschen Fußball-Verein. Stattdessen bestimmt der Faustball seit 1920 und seit 1945 bis heute vor allem der Handball den Sport in der deutschen Minderheit. Dass der Fußball gerade auch bei den Leserinnen und Lesern des „Nordschleswigers“ großes Interesse fand und sogar historisch auch für eine deutsch-dänische Wende im Grenzland gesorgt hat, soll dieser Beitrag dokumentieren.

Fußball als Brücke der Freundschaft

Ausgerechnet in den Schlusstagen des Zweiten Weltkrieges – im Januar 1945 – wurde in der „Nordschleswigschen Zeitung“ (NZ) auf die deutsch-dänische Kameradschaft im Fußball hingewiesen. Sønderborg Boldklub (der Sonderburger Ballklub) feierte 1945 sein 25. Jubiläum, und die Zeitung verwies darauf, dass die Gründung des Vereins 1920 in eine Zeit der politischen Hochspannung fiel. In der Festschrift des Vereins hieß es unter anderem sehr bemerkenswert:

„Es soll bei dieser Gelegenheit, wo der Sonderburger Ballklub einen Merkstein erreicht hat, nicht vergessen werden, dass verschiedene Mitglieder der deutschen Minderheit auf eine sehr schöne und anerkennenswerte Weise zur Förderung des Sports beigetragen haben, und man wünscht von Seiten des Fussballklubs darauf hinzuweisen, dass, wenn auch die Kluft im politischen und kulturellen Kampf groß gewesen ist, dies sich doch nie bemerkbar hat, wenn das Spiel mit dem runden Leder seinen Anfang nahm.“ 

Mitglieder der Minderheit spielten also durchaus Fußball: zum Beispiel meldete die „NZ“ noch im April 1945 – also nur wenige Wochen vor der Befreiung Dänemarks –, dass dem MTV Apenrade am Apenrader Jelm ein 4:1-Sieg gegen eine Wehrmachtself und damit eine Revanche für eine 3:5-Niederlage gegen die deutschen Soldaten im ersten Spiel gelungen war. 

Fußballbegeisterte Minderheit

Auch nach 1945 war der Fußball ein Brücken-Spiel, denn viele keineswegs unbekannte Spieler kamen aus der deutschen Minderheit und sorgten sowohl in Hadersleben (HFK) als auch in Apenrade (AaBK) für große Erfolge und für Gemeinsamkeiten jenseits nationaler Streitigkeiten. Allein „Der Nordschleswiger“ beschäftigte einige große Fußballer, die sich einen Namen machten, und das Fußball-Interesse in der Leserschaft war beachtlich, als ich in den 1960er-Jahren erster Sportredakteur der Zeitung wurde. Ich erinnere, dass der damalige BDN–Generalsekretär Rudolf Stehr kein Heimspiel im Apenrader Stadion verpasste. 

Sogar die Politik spielte Fußball, ja, als die Bonn-Kopenhagener Minderheitenerklärungen 1955 verabschiedet wurden, sprach das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ angesichts des Verhandlungsergebnisses von einem dänischen 3:1-Sieg. 

Der frühere Chefredakteur von „Ekstra Bladet“, der aus Hadersleben stammende Poul Madsen, machte erst kürzlich im dänischen Fernsehen aus seiner Vorliebe für den deutschen Bundesliga-Fußball kein Geheimnis. Frode Kristoffersen, ein damals bekannter dänisch-nordschleswigscher TV-Journalist, sprach sogar von einer dänischen Bundesliga-Grenze, womit er darauf aufmerksam machte, dass es in Nordschleswig/Südjütland eine Grenze gab, wo damals das deutsche Fernsehen empfangen werden konnte. 

Matlok mit Uwe Seeler auf dem Bahnhof in Rothenkrug Foto: Archiv

Das große Vorbild im Straßenfußball der Jungen war Hamburgs „Uns-Uwe“ Seeler, den wir übrigens in Zusammenarbeit mit dem AaBK zu einem Fußballspiel mit dem HSV nach Apenrade holten. 

Die ersten dänischen Fußballer in der deutschen Bundesliga erhöhten noch das Interesse. Der Verteidiger aus Vejle, Johnny Hansen, der mit Beckenbauer und dem FC Bayern dreimal den Europa-Pokal der Landesmeister gewann und der zum international erfolgreichsten dänischen Fußballer wurde, sowie Ulrik le Fevre bei Borussia Mönchengladbach oder der Stürmer Lars Bastrup beim HSV ließen nicht nur deutsche Fußball-Zungen vor Bewunderung schnalzen. 

Die Fußballweltmeisterschaften 1954 (für Nachkriegs-Deutschland sogar identitätsstiftend) und im eigenen Land 1974 haben auch in Dänemark für viele Fans gesorgt, damals lagen Welten zwischen dem deutschen (Profi-) Fußball und dem dänischen (Amateur) Fußball. Ja, sogar die Haar-Mode bekam in Dänemark einen besonderen Namen: Bundesliga-Haar, vorn kurz und hinten lang. 

Wende im Kräfteverhältnis

Erst unter einem deutschen Fußball-Trainer, dem ehemaligen Nationalspieler von Werder Bremen, Sepp (Josef) Piontek, änderte sich das Kräfteverhältnis – und änderte sich auch die Haltung vieler Däninnen und Dänen gegenüber der Bundesrepublik „Vesttyskland“, die noch 1972 bei der Volksabstimmung über den dänischen EWG-Beitritt von dänischen EU-Gegnerinnen und -Gegnern zum „Hauptfeind“ erklärt wurde. 

Die anfängliche Skepsis gegenüber Piontek bei seinem Amtsantritt 1979 wich einer sich stetig steigernden Freude darüber, dass er den dänischen Spielern einerseits deutsche Disziplin beibrachte, andererseits die rot-weiße Fröhlichkeit und das Talent zur spielerischen Kreativität förderte. In einer Mannschaft, die das Land in einen nationalen Begeisterungstaumel versetzte, nicht zuletzt nach der Fußball-EM 1982 in Frankreich und dem historischen 1:0 Sieg im Londoner Wembley-Stadion über England. 

Piontek hatte „Danish Dynamite“ gezündet. Das mit Spannung erwartete große deutsch-dänische Duell fand 1986 bei der Fußball-WM in Mexiko statt – im Gruppenspiel mit zwei deutschen Trainern am Spielfeldrand, Franz Beckenbauer beim DFB und Piontek bei DBU. 

Wenige Monate vor der Fußball-WM überreichte der damalige deutsche Botschafter in Dänemark, Dr. Jestaedt, im Auftrage von Bundespräsident von Weizsäcker Piontek in der Kopenhagener Residenz das Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik mit den Worten: „Sie haben Ihrem Lande Ehre gemacht.“ 

Und Piontek antwortete etwas schelmisch, die Ehrung sei für ihn „ein zweischneidiges Schwert“, wenn der Bundespräsident vielleicht dadurch hoffen sollte, dass er, Piontek, es mit der dänischen Nationalmannschaft in Mexiko gegen seine deutschen Landsleute nicht so schlimm machen werde.

Zu dem Zeitpunkt war ich zwar Chefredakteur der Zeitung, zugleich aber seit 1983 auch erster Leiter des deutschen Sekretariats Kopenhagen, und heute komme ich mit einem Geständnis, dass ich damals meine Positionen zu einer kleinen deutsch-dänischen Provokation „missbraucht“ habe – aber mit einem Augenzwinkern.

Ein Plakat, das Wirkung zeigt

Mit Redaktion und Setzerei entwarf ich Tage vor dem Spiel ein Plakat mit dem Titel: „Der står en Tysker bag enhver succes“ (Hinter jedem Erfolg steht ein Deutscher). Da ich in Kopenhagen auch von Freunden im Folketing schon vor dem Anpfiff in (berechtigter) Erwartung eines dänischen Sieges geärgert wurde, klebte ich spätabends in der Umgebung des Sekretariats in der Peder Skramsgade die aus Apenrade mitgebrachten Plakate an sichtbaren Stellen und konnte – aus dem Fenster meines Büros heraus – schon schnell großes Interesse an den Plakaten feststellen – auch vom Boulevard-Blatt „Ekstra Bladet“ das damals für seine antideutschen Töne bekannt war.

1986-Provokation: WM-Plakat im Nordschleswiger Beckenbauer/Piontek Foto: Archiv

„Ekstra Bladet“ hatte auf Seite 2 eine Kommentarspalte und da wurde mir für das Plakat die Rote Karte gezeigt, mit den Worten: „Matlok ist ein ebenso schlechter Fußballer wie Goethe, aber wenn von deutschen Erfolgen die Rede ist, möchten wir an das KZ Auschwitz erinnern.“ 

Der Treffer zeigte Wirkung, aber es gab auch erfreuliche Zustimmung. Als der konservative Kulturminister H. P. Clausen, der dem 2:0-Sieg der Dänen über die deutsche Mannschaft in Mexiko beigewohnt hatte, nach Dänemark zurückkehrte, meldete er sich bei mir im Sekretariat und bat um einige Plakate – für seine Söhne! 

Pionteks Mannschaft scheiterte zwar an Spanien, doch Piontek wurde neben Georg Buschner (für die DDR bei der WM 74 beim 1:0-Sieg in Hamburg) der einzige deutsche Trainer, der mit einer Nationalmannschaft die bundesdeutsche Mannschaft in einem Pflichtspiel besiegte. Das Schlachtlied der Roligans „Re-Sepp-ten“ wurde zur inoffiziellen Nationalhymne. Piontek wurde in Dänemark auch nach seinem Rücktritt als Nationaltrainer Nationalheld: 2011 wurde er in die „Hall of Fame“ aufgenommen, und 2021 erhoben sich mehr als 40.000  Zuschauer im Kopenhagener Parken, um den (bis heute!) unverändert populären Ehrengast Piontek zu bejubeln. 

Ein Bundespräsident in Tingleff

Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1989 im Rahmen seines Staatsbesuchs in Dänemark die deutsche Minderheit besuchte, habe ich damals Sepp Piontek zur Abschlussveranstaltung in die Tingleffer Sporthalle eingeladen, wo er mit seiner Frau – neben Prinz Joachim – als Ehrengast unter den deutschen Nordschleswigern großen Beifall fand. Und in seiner Tingleffer Rede sagte der Bundespräsident spontan: „Dann kamen wir hier herein, als Erstes sah ich einen vorzüglichen weiteren Beitrag der deutschen Volksgruppe für das Wohl des Königreiches Dänemark, Sepp Piontek.“ 

Die größten Früchte seiner unschätzbaren Arbeit für den dänischen Fußball erntete Piontek aber nicht selbst, sondern sein langjähriger Assistent Richard Møller Nielsen, der 1990 nach Sepp die Nationalelf übernahm und – nach dem kriegsbedingten Ausschluss Jugoslawiens – doch noch an der Fußball-EM 1992 in Schweden teilnehmen konnte. Und ohne große Vorbereitung gelang der rot-weißen Freizeit-Elf sensationell der Sprung ins Endspiel von Göteborg: Finalgegner –  das inzwischen wiedervereinigte Deutschland, das 1990 die dritte Weltmeisterschaft gewonnen hatte. Die deutsche Elf unter Trainer Berti Vogts galt deshalb als klarer Favorit. Am Rande eines entscheidenden EU-Gipfels wurde der mit einem rot-weißen Fanschal bekleidete dänische Außenminister Uffe Ellemann-Jensen unmittelbar vor dem Endspiel weltberühmt mit den Worten: „If you can't join them, beat them.“

Ellemann ärgert Bundeskanzler Kohl 

Wenige Wochen, nachdem die Dänen den Maastrichter EU-Vertrag bei einer Volksabstimmung abgelehnt hatten, versuchten Staatsminister Poul Schlüter und sein Außenminister auf dem Gipfel in Lissabon eine Lösung für Dänemarks europäische Existenz-Krise zu finden. Ellemann, der während der Ratssitzung insgeheim auf einem kleinen Fernsehschirm das Finale verfolgte, berichtete später, dass Kohls optimistische Miene sich mit dem Spielverlauf verdunkelte und es nach dem sensationellen 2:0-Sieg der Dänen auch keinen Glückwunsch des deutschen Kanzlers gegeben haben soll. 

Dänemark befand sich in einem nationalen Begeisterungsrausch, der Schriftsteller Klaus Rifbjerg verglich die Vaterlandsliebe mit einem Orgasmus, und der Sieg von Göteborg wurde in manchen Kommentaren sogar als historische Rache für die Niederlage auf Düppel 1864 eingestuft. Die von Zehntausenden auf dem Kopenhagener Rathausplatz umjubelten Fußballer sangen angeheitert auf dem Balkon: „Deutschland, Deutschland – alles ist vorbei.“ In ihrer Neujahrsansprache warnte dann Königin Margrethe vor zu übertriebenen, nationalistischen Tönen. 

Immerhin: mit dem EM-Sieg von David Dänemark über Fußball-Goliath „Tyskland“ wurden auch so manche dänische Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem großen Bruder abgebaut, was auch im Fußball seitdem für gleiche Augenhöhe sorgte.

Und noch ein Bild Public-Viewing auf dem Knivsberg 2012 Foto: Archiv

Public Viewing auf dem Knivsberg

Und ein fußballerisches Ereignis mit politischem Charakter möchte ich als Verdienst des „Nordschleswigers“ noch hervorheben: bei der Fußball-EM 2012 – ausgetragen in Polen und in der Ukraine – traf Deutschland in der Gruppenphase auf Dänemark. Zusammen mit den Kollegen von „JydskeVestkysten“ konnte ich ein gemeinsames „Public-Viewing“ veranstalten – von meiner Seite ganz in der Mulde auf dem Knivsberg. 

Dänische Roligans und Anhänger der deutschen Mannschaft sangen vor dem Spiel ihre jeweiligen Nationalhymnen, und in dem Moment dachte ich daran, dass nur wenige Meter von der Mulde entfernt die umstrittene, einst national umkämpfte Gedenkstätte der deutschen Minderheit für die Gefallenen des 1. und 2. Weltkrieges lag. Deutschland gewann das Spiel mit 2:1. Viel wichtiger war aber die Tatsache, dass der Fußball auf dem Knivsberg zu einer weiteren Verständigung beigetragen und alte Vorurteile abgebaut hatte, denn viele der dänischen Zuschauer, die aus der Umgebung von Apenrade, Rothenkrug und aus dem benachbarten Genner kamen, hatte nie zuvor den früher bei den Dänen so verhassten Rasen des Knivsbergs betreten. 

Bei der am Freitag beginnenden Fußball-Europameisterschaft hat die dänische Mannschaft ihr Trainingsquartier im Schwarzwald, in Freudenstadt, und mit Vorfreude darf man darauf hoffen, dass diese Europameisterschaft einen ähnlichen Erfolg bringt wie das Sommermärchen 2006 in Deutschland.

Die hoch anerkannte Deutschland- und Europa-Expertin Lykke Friis, leidenschaftliche Anhängerin des FC Bayern München und der dänischen Nationalmannschaft, hat bereits – Traum oder Albtraum? – prognostiziert, dass es am 29. Juni im Achtelfinale zu einem deutsch-dänischen Duell kommen kann.

Da bleibt einem sportlich-neutral nur zu wünschen: 

Nun siegt mal schön ... 

 

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